Widersacher-Zyklus 04 - Erweckung
Jim sah zu Carol hinüber, die in dem großen Ohrensessel saß. »Was meinst du, Liebling?«
Sie starrte Löcher in die Luft. Sie war schon den ganzen Abend schwermütig und verschlossen. Jim fragte sich, was sie bedrückte.
»Carol?«
Sie sah auf. »Was?«
»Ist alles in Ordnung?«
»Oh, ja. Alles in Ordnung. Bestimmt.«
Jim glaubte ihr kein Wort, aber er wollte nicht darüber reden, solange Becker noch um sie herumscharwenzelte. Er ließ sich langsam gar nicht mehr abschütteln und entwickelte sich dabei zu einem veritablen Klotz am Bein.
»Schau mal an«, sagte Becker. Er hatte den Band aus dem Jahr 1943 durchgeblättert. Er schob das Buch Jim vor die Nase. »Lies mal den zweiten Absatz auf der rechten Seite.«
Jim kniff die Augen zusammen, während er Hanleys enge Handschrift zu entziffern versuchte:
Ed und ich haben uns ein wenig über Jazzys armseligen Versuch lustig gemacht, mich zu erpressen. Ich habe ihr letztes Jahr gesagt, sie hätte den letzten Penny erhalten, den sie je von mir bekommen würde, und dass sie sich aus dem Staub machen solle.
»Jazzy!«, sagte Jim. »Den Namen habe ich schon gesehen. Wo war das noch? – 1949!« Er zog den Band aus dem Regal und blätterte ihn durch. Wo war das? »Hier!«
Es las laut vor:
Habe heute in der Zeitung gelesen, dass Jazzy Cordeau tot ist. Wie bedauerlich. Was war das doch für ein himmelweiter Unterschied zwischen der Frau, zu der sie wurde, und der, die sie hätte werden können. So eine Verschwendung.
Jims Gedanken rasten. Jazzy Cordeau! Das war französisch … New Orleans? War das vielleicht seine Mutter? Jazzy Cordeau war der einzige Frauenname, den er gefunden hatte, der mit den fehlenden Jahren in Zusammenhang stand.
Er musste an diesen Safe herankommen.
»Ich schätze, ich mache Schluss für heute«, sagte Becker. »Ich bin fix und fertig.«
Jim versuchte, seine Erleichterung zu verbergen. »Ja, geht mir genauso. Hör zu, warum lassen wir das nicht alles etwas sacken? Wir haben uns richtig in dieses Haus verbissen.«
Becker zuckte die Achseln. »Soll mir recht sein. Ich kann ja mal die Todesanzeigen in ein paar Zeitungen für dich überprüfen. Vielleicht finde ich ja was. Ich melde mich in ein paar Tagen.«
»Klasse. Ich weiß das zu schätzen. Du weißt, wie du rauskommst.«
Als Jim die Tür zuschlagen hörte, drehte er sich zu Carol um und grinste. »Endlich ist er weg!«
Sie nickte abwesend.
»Liebling, was ist los?«
Carols Gesichtszüge verzerrten sich, als ihr Tränen in die Augen traten. Sie begann zu weinen. Jim eilte zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme. An ihn gedrückt wirkte sie so schwach und zerbrechlich.
»Ich dachte, ich sei schwanger, aber ich bin es nicht«, schluchzte sie.
Er hielt sie fest und wiegte sie hin und her.
»Ach Carol, Carol, Carol. Nimm das nicht so schwer. Wir haben alle Zeit der Welt. Wir haben von jetzt an nichts besseres mehr zu tun, als dafür zu sorgen, dass kleine Füße durch dieses große alte Haus trippeln.«
»Aber was, wenn es nie dazu kommt?«
»Das wird schon.«
Er führte sie zur Eingangstür. Es brach ihm das Herz, sie so traurig zu sehen. All dieser ihm so unverhofft zugefallene Reichtum bedeutete gar nichts, wenn Carol unglücklich war.
Er küsste sie.
»Komm schon. Lass uns in unser eigenes Bett in unserem eigenen kleinen Haus fahren und ein paar Hausaufgaben machen.«
Sie lächelte zwischen ihren Tränen hindurch.
Das war schon besser!
IX
Montag, 4. März
Manhattan
1.
Bruder Robert kniete auf dem kalten, mit Reis bestreuten Fußboden am Fenster und intonierte lautlos das Morgengebet. Als er am Ende angekommen war, blieb er auf den Knien. Sein Fenster war nach Osten gerichtet und er blickte auf den sich aufhellenden Himmel hinaus.
Das Böse wurde stärker. Mit jedem Tag warf es einen dunkleren Schatten über seine Seele. Und es kam von da drüben, aus dem Osten, irgendwo von Long Island. Martin hatte ihn bis nach Montauk und wieder zurück gefahren, aber es war ihm nicht gelungen, die Quelle zu lokalisieren. Je näher er ihr kam, desto diffuser wurde es, bis von allen Seiten schreckliche Empfindungen über ihn hereinbrachen.
Gib mir ein Zeichen, Herr. Zeig mir, wo es ist. Enthülle mir deinen Feind.
Und was dann? Wie sollte er den Mensch gewordenen Teufel bekämpfen?
Wirst du mich führen, Herr?
So verlief sein Gebet. Er hatte keinen Schlachtplan, keine Strategie. Er war kein Taktiker, kein General. Er war ein kontemplativer Mönch, der der Welt
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