Widersacher-Zyklus 05 - Nightworld
war, auch das andere Bein hinüberzuziehen. Die Tiefen dräuten unter ihm. Verschreckt sprang er auf die Plattform zurück, keuchend und zitternd. Er sah auf und bemerkte einen der städtischen Bauarbeiter, der neben ihm stand und ihn beobachtete.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Pater?«
»Es geht gleich wieder.«
»Hey, ich wollte Sie nicht erschrecken. Wir haben das Geländer zwar so stabil gemacht, wie es unter diesen Umständen möglich war, aber jemanden mit Ihrem Gewicht wird das nicht halten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Bill nickte und richtete sich schlotternd wieder auf.
»Das ist mir klar. Danke für die Warnung.« Ich bin Ihnen mehr zu Dank verpflichtet, als Sie es sich vorstellen können.
Der Arbeiter winkte und machte sich davon. Bill blieb allein auf der Plattform zurück. Er riss sich zusammen und trat von der Kante zurück.
Was war da soeben passiert? Was war ihm eingefallen, sich auf das Geländer zu setzen? Hatte er wirklich springen wollen? Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Oder hatte er gar nicht gedacht? Es war eher, als habe er auf etwas reagiert. Aber auf was? Auf den Abgrund?
Ihn schauderte. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hierherzukommen. Er hatte das Loch aus der Nähe gesehen. Die weiteren Geschehnisse konnte er sich von Glaekens Fenster aus oder im Fernsehen ansehen. Er sah sich nach Nick um und sah, wie der auf ihn zukam. Er wirkte verunsichert.
»Was ist los, Nick?«
»›Technische Probleme‹, wie es im Fernsehen immer heißt. In ein paar Minuten haben wir die gelöst.«
Bill sah sich Nick genauer an. Auf seiner Oberlippe standen Schweißperlen.
»Du hast vermutlich nicht das Ergebnis erhalten, mit dem du gerechnet hast?«
»Wir haben überhaupt kein Ergebnis erhalten. Ein Fehler im Empfangsgerät, das ist alles.«
Bill gestattete sich einen kurzen Moment der Erleichterung. Er wünschte Nick Erfolg dabei, den Grund des Loches zu vermessen. Er wollte, dass Glaeken unrecht hatte, nur ein einziges Mal. Nicht aus Kleinlichkeit oder Neid, sondern weil Glaeken bisher mit allem recht gehabt hatte, und alles, was er prophezeite, war schlimm. Bill hatte das Gefühl, er würde ein bisschen ruhiger schlafen, wenn Glaeken wenigstens einmal irgendwo widerlegt wurde.
Und dann packte ihn ein Gedanke wie ein eisiger Windstoß und blies alle Erleichterung davon.
»Moment mal, Nick. Du hast gesagt, ihr hättet kein Signal erhalten. Wäre das nicht das zu erwartende Ergebnis, wenn das Loch bodenlos wäre?«
»Es ist nicht bodenlos, Pa…«
» Wäre das nicht das, was zu erwarten wäre?«
»Na ja … ja. Aber das ist nicht die einzige Möglichkeit. Es gibt einen Haufen Eventualitäten, bei denen wir kein Rücksignal bekommen würden.«
»Aber eine ist eben auch die, dass der Laserstrahl nichts gefunden hat, wovon er reflektieren konnte, und deswegen gar nicht zurückgekommen ist. Habe ich recht?«
Nick seufzte. »Du hast recht.« Plötzlich klang er müde. »Aber das Loch ist nicht bodenlos. Das kann nicht sein. Es gibt nichts, was bodenlos ist.«
Einer der Studenten kam mit einem grüngestreiften Computerausdruck zu Nick gerannt. Bill konnte Nicks Gesichtsausdruck entnehmen, dass ihm das, was er da sah, nicht gefiel. Er reichte dem Studenten den Ausdruck zurück.
»Macht es noch mal. Und macht es diesmal richtig.«
»Aber das haben wir«, sagte der Student mit beleidigter Miene. »Alles passt hundertprozentig. Der Strahl und das Aufzeichnungsgerät sind vollkommen in Ordnung.«
Nick tippte auf die Ausdrucke. »Anscheinend ja wohl nicht.«
»Vielleicht ist da unten etwas, das den Strahl absorbiert.«
»Den Strahl absorbieren«, murmelte Nick langsam. Der Gedanke sagte ihm offenbar zu. »Sehen wir uns das mal an.« Er wandte sich an Bill. »Ich werde fürs Erste beschäftigt sein, Pater Bill, aber bleib ruhig in der Nähe. Wir werden das schon knacken.« Er winkte und ging davon.
Zur Kaffeezeit ging Bill in die Wohnung zurück, um etwas zwischen die Zähne zu bekommen und um die Toilette aufzusuchen, bevor Nick seinen Abstieg begann.
Das musste man Nick lassen – er war ebenso einfallsreich wie stur. Er wollte einfach nicht aufgeben. Als er gehört hatte, dass sich eine funktionsfähige Taucherkugel in einer Ausstellung am South-Street-Yachthafen befand, tätigte er ein paar Anrufe und mietete das Gerät. Er hatte vor, sich mit der Glocke so tief in das Loch hinabzulassen, wie das Kabel reichte, dort würde er eine neue Laserbestimmung vornehmen.
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