Wie angelt man sich einen Earl
die ihr Angst machte.
„Guten Abend, Mylord. “ Lächelnd vollführte sie einen koketten Hofknicks.
„Mylady …“, murmelte Rafe mit einer Stimme wie Samt und Seide.
Dunkel und brütend saß er hinter einem langen, schmalen Tisch am anderen Ende des Raums, der viel zu groß, zu dunkel und bedrückend war, um als klein und gemütlich zu gelten. Höchstens im direkten Vergleich zum offiziellen Speisesaal, in dem man sich völlig verloren fühlte.
Wie bereits angekündigt, hatte Rafe sich nicht festlich gekleidet, allerdings trug er auch nicht den erwarteten eleganten Anzug, den sie inzwischen als eine Art Uniform an ihm akzeptierte. In der engen Jeans zum lässigen schwarzen Kaschmirpullover, das dunkle, halblange Haar zerrauft, als wäre er gerade mit allen zehn Fingern durchgefahren, raubte sein Anblick Angel förmlich den Atem.
Im Anzug verkörperte er zu hundert Prozent den Earl: souverän, distanziert und völlig außerhalb ihrer Reichweite. Im legeren Outfit war er einfach nur ein Mann. Aber was für einer! Er sah aus wie eine lauernde Raubkatze, zumindest in Angels lebhafter Fantasie. Mühsam gezügelte Kraft und gebündelte Energie, die ein zitterndes Echo in ihrem Inneren auslösten und ihren Pulsschlag in die Höhe trieben.
„Warum starrst du mich so an?“, fragte er.
Angel schluckte trocken. „Ich suche den Earl hinter dieser ungewohnten Aufmachung“, behauptete sie und ließ ihren Blick bedächtig von den schwarzen, wirren Locken über das harte Gesicht, den kraftvollen Körper bis hinunter zu den Füßen wandern, die in derben Stiefeln steckten.
„ Earl war ich schon, bevor ich mit dem Titel rechnen konnte.“ Er sagte es mit dieser tonlosen Stimme, hinter der sie Geheimnisse vermutete, die er offensichtlich nicht mit ihr teilen wollte. „Es ist in mir, ob ich will oder nicht … wie der Familienfluch.“
Er war so schwermütig, geheimnisvoll und düster. Das hätte sie abschrecken müssen, doch stattdessen spürte Angel nur den Drang, die äußere und innere Distanz zwischen ihnen aufzuheben. Es war wie ein gefährlicher Sog, als stehe sie an einer steilen Klippe und drohe der Faszination des dunklen, stürmischen Meers zu erliegen, das tief unter ihr tobte und nach ihr rief.
Rafe saß immer noch unbewegt da und betrachtete sie aus seinen kühlen grauen Augen. Es war, als sähe er ihr direkt in die Seele und lese jeden ihrer wirren Gedanken. Als wüsste er genau, was für eine gefährliche Anziehung er auf sie ausübte. Mit jedem Blick und jedem Atemzug geriet Angel mehr in seinen Bann.
Mach dich nicht lächerlich! rief sie sich selbst zur Ordnung. Schließlich ist er auch nur ein Mann! Zwei Wochen Schottland, und du siehst bereits Gespenster …
Äußerlich gelassen nahm sie an seiner Seite Platz und akzeptierte, dass Rafe ihr höflich den Stuhl zurechtrückte. Als er ihr ein Glas Wein reichte, berührten sich flüchtig ihre Finger. Eine zufällige, unbedeutende Geste, die Angel bis ins Innerste aufwühlte.
„Du hast in der Bibliothek von gewissen Forderungen gesprochen“, erinnerte sie Rafe und hoffte, dass ihre Stimme sich nicht so atemlos anhörte, wie sie sich fühlte. „Vielleicht solltest du sie alle auflisten, damit keine Verwirrung zwischen uns entsteht.“
„Ich bin nicht im Mindesten verwirrt“, kam es zurück. „Aber ich bin ja auch nicht derjenige, der befürchtet, die Highlands könnten ihn in den Wahnsinn treiben.“
„Da ich bisher nur wenig davon gesehen habe, fühle ich mich eigentlich noch ziemlich gesund und stabil“, behauptete Angel immer noch lächelnd, als wäre es ihr Job, ihm eine fröhliche Fassade zu präsentieren. „Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich mir immer noch einbilden kann, in London zu sein, wenn ich nur vom Hausinnern nach draußen schaue.“
„Ich bewundere deine Entschlossenheit, in deiner Fantasiewelt zu verharren“, murmelte Rafe sarkastisch. „So wirst du es hier vielleicht länger aushalten als gedacht.“
Während des gesamten Essens blieb das Lächeln wie festgefroren auf Angels Lippen. Das Dinner erwies sich als eine zeitaufwendige Angelegenheit. Gang auf Gang wurde aufgetragen, jeder noch opulenter und köstlicher als der vorherige. Sie aßen und redeten. Das heißt, eigentlich war es Angel, die mit launigen Anekdoten die Konversation aufrechterhielt, ihren Gatten immer wieder herausforderte und neckte, nur um in den Genuss des flüchtig aufblitzenden Lächelns zu kommen, bei dem ihr Herz jedes Mal einen
Weitere Kostenlose Bücher