Wie ausgewechselt
Nicht, dass er sich noch satt fühlen würde vom Bankett des Vorabends mit den Sponsoren, Betreuern, Trainern und der Mannschaft. Nein, er möchte lesen. Nach und nach trudeln die Schalker Spieler im Frühstückssaal ein. Der Manager will in den Augen, in den Gesichtern der Profis lesen, ein Gefühl bekommen für ihre Verfassung: Wie haben die Jungs geschlafen? Haben sie sich in den Betten gewälzt? Haben sie in der Nacht vor dem Finale überhaupt ein Auge zugetan? Assauer setzt sich an einen Tisch und beobachtet die Spieler. Jeden Einzelnen. Als wäre er ein Arzt, der nun eine Diagnose stellen muss. Hier und da macht er einen Spaß, dort hält er einen Plausch. Und mit einem Mal wird Assauer klar: Der Pott geht an diesem 21. Mai 1997 nach Schalke, keine Frage. Obwohl der Gegner Inter Mailand heißt im Rückspiel des UEFA-Cup-Finals. Obwohl die Italiener haushoher Favorit sind, die stärkere Mannschaft und die besseren Einzelspieler haben. Obwohl die Italiener zu Hause antreten dürfen in ihrem Giuseppe-Meazza-Stadion, in dem sie das 1 : 0 der Schalker von vor zwei Wochen wettmachen wollen.
»Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, aber ich konnte das in diesem Moment ja niemandem sagen. Wie wäre das denn angekommen? Jetzt spinnt er, der Alte, hätten die gesagt. Aber ich wusste in diesen Momenten: Da kann nichts schiefgehen, da brennt nichts an. Schon gar, weil wir in diesem Quartier übernachteten. Das Hotel für das Finalrückspiel hatten wir wegen des riesigen Trubels ganz bewusst etwas außerhalb der Stadt Mailand gewählt, draußen am Comer See. Und ein wenig wegen des Aberglaubens: Denn dort residierte die deutsche Nationalmannschaft während der WM 1990 in Italien – hat ja geholfen. Also war ich völlig ruhig und entspannt. Wir mussten erst noch die Stunden bis zur Abfahrt mit dem Mannschaftsbus Richtung Stadion rumkriegen.
Der Tag im Hotel zog sich hin wie Kaugummi. Auch als Spieler war das immer eine Qual bei so späten Anstoßzeiten am Abend: Je bedeutender das Spiel, desto dringender und sehnlicher wünschst du dir den Anstoß herbei. Man tut, was man kann, damit die Zeit vergeht.
Ich bin zur Ablenkung in die Innenstadt gefahren, auf der Domplatte etwas herumspaziert, aber das wurde mir schnell zu viel. Assauer hier, Rudi da. Ein Foto, ein Autogramm, ein Schulterklopfen. Ich wollte meine Ruhe haben. Die fand ich zurück im Hotel auch nur begrenzt. Plötzlich tauchte ein italienischer Spielerberater auf, er wollte mal wegen unseres Torhüters Jens Lehmann nachfragen, was man da so machen könne. Den habe ich freundlichst gebeten, das Hotel zu verlassen. Aber ruckizucki.
Mittags habe ich mit Huub einen Spaziergang durch die Parkanlage gemacht, wir haben ganz locker über das gequatscht, was da am Abend wohl kommt. Und ich habe ihm gesagt: ›Pass auf, Huub. Wir gewinnen das Ding. Das wird gar nicht zu verhindern sein.‹ Ich gebe gerne zu: Es hat gekribbelt, die ganze Zeit. Da hast du keine Muße, dich hinzusetzen und was zu lesen – geht nicht. Am Nachmittag habe ich mit den Betreuern ein kleines Kreisspielchen gemacht: fünf gegen zwei. Um sich die Zeit zu vertreiben, die Beine zu vertreten und die Birne freizubekommen. Richtig locker machen konnte sich keiner. Der Einzige, der einen Spruch und Witz nach dem anderen rausgehauen hat, war unser Busfahrer. Wir nannten ihn ›Rocky Balboa‹, ein irrer Typ.«
Die gesamte Truppe ist in jener denkwürdigen Saison 1996/97 mit vollem Einsatz dabei. Die Spieler werden zu Eurofightern und damit zur Legende. Von Runde zu Runde steigert sich die Mannschaft von Huub Stevens im UEFA-Pokal mehr und mehr in einen Rausch, der sie bis ins Finale gegen Inter trägt. Im Hinspiel gelingt Marc Wilmots im zum Bersten gefüllten Parkstadion nach 70 Minuten der Siegtreffer – 1 : 0.
»Wir sind verdient ins Endspiel eingezogen, nicht glücklich, wie uns manche weismachen wollten. Wir haben es mit dem lieben Gott und viel Kampf und Widerstand gegen alle Umstände geschafft. Runde für Runde. Kerkrade, Trabzonspor, Brügge, Valencia, Teneriffa – so hießen unsere Gegner auf dem Weg ins Finale. Ich habe immer noch diesen Ohrwurm parat, den unsere Fans damals gedichtet und ständig gesungen haben. ›Wir schlugen Ro-da, wir schlugen Trab-zon, wir schlugen Brügge sowieso. Va-len-cia, Te-ne-riffa. In-ter Mai-land, das war ’ne Show.‹ Kann ich heute noch vor mich hinträllern. Aber wir hatten nicht nur die besten Fans, wir hatten den Willen, den Zusammenhalt und das
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