Wie ausgewechselt
einen Spickzettel zu, der Torhüter lässt ihn in seinem Stutzen verschwinden. Darauf befinden sich sachdienliche Hinweise für den größtmöglichen Triumph: Welcher Schütze von Inter schießt bevorzugt in welche Ecke? Die Zusatzinfos: Wie schießt er? Flach, halb hoch, unter die Latte – je nachdem, ob er einen kurzen oder einen langen Anlauf nimmt. »Ich hatte und habe eine Liste mit 2500 Elfmeterschützen aus aller Welt auf einer CD gespeichert. Ich erfasse das alles mithilfe des Internets und aktualisiere diese Liste jede Woche«, erklärt Stevens.
»Ein positiv Verrückter! Und was machte dieser Holländer während des Elfmeterschießens, als es gerade um den größten Erfolg unseres Vereins in den letzten 50 Jahren ging? Er notierte fein säuberlich jeden Schützen und wie der abgeschnitten hat. Unten rechts, oben rechts. Was auch immer! Mann, Mann, Mann! Das hätte er sich doch danach noch zig Mal auf Video anschauen können, aber nein, Ordnung musste sein. Einen Sinn hatten die hektischen Notizen natürlich schon: Wenn es nach jeweils elf Schützen immer noch Unentschieden gestanden hätte, wäre das Spielchen von vorne losgegangen. Mit Vorteil Huub. Er hätte sofort parat gehabt, wie der erste Elfmeter des jeweiligen Schützen geschossen war. Ein Tausendprozentiger, unser Trainer.«
Ingo Anderbrügge, der »Mr Elfmeter«, beginnt – 1 : 0 für Schalke. Hart und sicher. Für Inter kommt als erster Schütze Ivan Zamorano – und Leh mann hält. Die Nächsten verwandeln alle sicher. Für Schalke Olaf Thon und Martin Max, zwischendrin Djorkaeff für Mailand. Dann kommt Aaron Winter.
»Den Schuss von Winter hat unser Jens nicht gehalten, den hat er am Tor vorbeigeguckt. Später hat er mir erzählt, dass er vor der Ausführung zu Schütze Winter gesagt hat: ›I keep standing in the middle.‹ Also: ›Ich bleibe in der Mitte stehen.‹ Der Holländer bekam weiche Knie und schlenzte die Kugel vorbei. Als Marc Wilmots, unser Kampfschwein, den letzten Ball zum 4 : 1 verwandelte, gab es kein Halten mehr. Erst später auf TV-Bildern habe ich gesehen, was ich da für einen Luftsprung samt Becker-Faust gemacht habe. Nur für einen kam der Sieg zu früh: für Huub. Die Spieler jubelten schon längst, während er noch den Elfer von Wilmots notierte.«
Jetzt kann die königsblaue Party beginnen. Die verletzten Spieler wie Youri Mulder, die bei den Spielerfrauen gesessen haben, kommen von der Tribüne auf den Rasen. Als Kapitän bekommt Olaf Thon den Pokal überreicht – ein fast irrealer Moment im halb leeren Stadion, da die Italiener fluchtartig abgehauen sind. Die Schalker lassen sich jetzt mit den schönsten Dingen des Lebens fotografieren: mit ihren Frauen und dem Pott, dem UEFA-Pokal.
»In einer Metallkiste hatten unsere Betreuer, diese Schlawiner, heimlich ein paar Pullen Bier und Schampus mit ins Stadion geschmuggelt. Wilmots, Thon, ach beinahe alle Spieler wollten mich erwischen, mich mit Schampus nass machen. Immer wieder bin ich geflüchtet, da ich mein Sakko noch den ganzen Abend gebraucht habe. Ein anderes hatte ich nicht dabei. Durch das Ziehen und Zerren wurde das gute Stück ein bisschen ausgeleiert – egal. Als ich zurück in die Kabine kam, herrschte für ein paar Momente beinahe Totenstille: Alle wollten und mussten erst mal sacken lassen, was da passiert war. Dieser FC Schalke, vor drei, vier Jahren beinahe noch per Lizenzentzug aus der Bundesliga geflogen, war Europapokalsieger. Ein Meilenstein, der Beginn einer neuen Ära. Finanziell sind wir von da an in ganz andere Dimensionen vorgestoßen, ein regelrechter Boom wurde losgetreten. Auch im Marketing haben wir einen Riesensprung gemacht.«
Weit nach Mitternacht geht es dann im Bus zum Flughafen Mailand-Linate, dort wartet eine Chartermaschine auf den Schalker Tross. Am Airport kommen die meisten für einen Moment zur Ruhe. Einige Spieler nippen gedankenverloren an einem Sektglas oder einer Pulle Bier, andere lehnen sich an ihre Frauen und Freundinnen. Yves Eigenrauch, der Djorkaeff-Leibwächter, stammelt vor sich hin: »Yves Eigenrauch aus Lerbeck gegen Youri Djorkaeff, den die ganze Welt kennt. Ich habe mir unheimlich viele Gedanken gemacht. Viel mehr als nötig. Die Italiener waren überheblich. Ich glaube, das alles begreife ich erst in zehn Jahren, wenn ich nicht mehr Fußball spiele.«
»Als ich beobachten konnte, wie unser Jens ziemlich angestrengt versucht hat, einer dicken Havanna aus meiner Zigarrenkiste ein paar Rauchwolken zu
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