Wie ausgewechselt
haben. Sie hielten voll dagegen, nach 69 Minuten lagen wir wieder hinten. 2 : 3 – was für eine Schmach. Unsere Jungs kamen mir vor wie gelähmt, die einfachsten Dinge gingen schief. In Hamburg passierte nichts, gar nichts. Aber wir mussten doch zumindest unsere Pflicht erfüllen, dachte ich, wenigstens gewinnen, falls da oben im Norden ein Wunder geschah. Dann kam der Verrückte, der Jörg Böhme. Er drehte das Spiel, machte binnen zwei Minuten zwei Tore. Das habe ich noch vor Augen: Erst knallte er einen Freistoß unter der hochspringenden Mauer rein, dann schlenzte er die Kugel ganz brasilianisch am Hachinger Torwart vorbei – 4 : 3. Wenigstens wurde es noch ’ne gute Show. Ab und zu wandte ich mich an unsere Betreuer, die Radio hörten. Ein Blick reichte, die Antwort war Kopfschütteln mit zusammengepressten Lippen. Nichts Neues in Hamburg, 0 : 0. Unser Torjäger Ebbe Sand erzielte in der 90. Minute das 5 : 3, rannte an der Eckfahne zu einem Fan mit Trommel, haute kräftig auf die Pauke. Dunkel vernahm ich, wie es durchs weite Rund schallte: ›HSV! HSV! HSV!‹ Ein Rumpelsieg war dieses 5 : 3. Nicht ganz würdig für die letzte Partie im Parkstadion vor 65 000 Fans. Aber okay, ein versöhnliches Ende – solche Gedanken gingen mir durch den Kopf. Unterhaching musste absteigen. Das Spiel lief noch, als ich mir überlegte: Da musst du ein paar nette Worte finden, die Hachinger trösten.«
Plötzlich Schreie, spitze Schreie. Menschen auf den Tribünen recken ihre Hälse. Was ist los? Irgendwo eine Schlägerei? Es muss etwas passiert sein. Das Gemurmel wird zum Raunen, hilflos blicken sich die Leute an. Andere pressen in dem Lärm ein Ohr an ein Radio oder drücken die Kopfhörer noch fester in den Gehörgang. Wieder andere starren ihr Handy an. Na, komm schon, eine SMS? Einige rufen jemanden an, der fernsieht oder Videotext hat. Das Handynetz bricht zusammen. Man glaubt zu wissen, um was es geht. Das 1 : 0 für Hamburg? Ja! Ja? Man will es aber nicht glauben, darf es nicht. Das Unglaubliche hieße: Schalke wäre Meister. Sekunden der Schwerelosigkeit, ohne Zeit und Raum. Bis die Anzeigetafel die beiden Logos vom HSV und Bayern zeigt, darunter in schwarzen Ziffern 1 : 0 – die Erlösung. Völlig entrückt und erleichtert, endlich glauben zu dürfen, was unglaublich erscheint, brechen nun alle Dämme. Eine Explosion der Sinne. Die Fans stürmen den Platz, die Ordner öffnen gedankenschnell die Tore der Nordkurve. Menschen, die nicht wissen, wohin mit ihren Glücksgefühlen, purzeln über den Rasen. Spieler, Betreuer hüpfen auf der Tartanbahn am Spielfeldrand umher wie kleine Kinder. Trainer Stevens traut dem Ganzen noch nicht, er versucht, die Fassung zu bewahren. »Ich hatte ein komisches Gefühl «, erinnert sich der niederländische Trainer, »ich war mir nicht sicher, denn ich hatte gelernt: Im deutschen Fußball muss man immer bis zur letzten Sekunde wachsam sein.« Hinter dem Stadion drückt einer auf den Knopf, das vorbereitete Feuerwerk wird gezündet.
»Während der Saison, als wir in der Tabelle ganz oben standen, habe ich immer wieder gemahnt: ›Wer vorher feiert, feiert umsonst.‹ Nun ließ ich mich mitreißen, da kannste nicht anders. Unten am Rand des Spielfelds brach eine Hektik aus, das kann man sich nicht vorstellen. Immer wenn man jemanden fragen wollte: Ja, ist es denn aus, das Spiel in Hamburg, kam wieder einer, der einen umarmt hat, fast umgehauen hat. Und dann begann das ganze Drama erst so richtig. Ich kann diesen Moment noch heute spüren, diese Sekunde, als es meinen ganzen Körper durchzuckte. Da schrie Benno Fuhrmann, dieser baumlange Kerl von Premiere, auf der Tartanbahn: ›Hamburg ist aus. Aus! 1 : 0, Ende. Ihr seid Meister.‹ Jetzt flippten alle aus. Jeder schnappte sich irgendeinen, wilde Umarmungen, immer mehr Fans stürmten den Rasen. Daher flüchteten einige Spieler in die Kabine.«
Bei Premiere sind die Reporter im Trubel ohne Kontakt zur Regie. Weil der Innenraum mit Fans geflutet wird, räumen die Helfer die Monitore weg, und über Kopfhörer ist die Regie nicht zu verstehen. Fuhrmann schnappt sich Andreas Müller zum Interview, sagt ihm, dass bei Bayern Schluss sei, und gratuliert live auf Sendung: »Es ist zu Ende in Hamburg. Sie sind Meister.« Müller fährt immer noch ein Schauer über den Rücken, wenn er heute davon erzählt. »Ich habe in die Kamera gerufen: ›Ich trinke auf den HSV. Ganz großes Kompliment an den HSV, vielen, vielen Dank. HSV, ich liebe
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