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Wie ausgewechselt

Wie ausgewechselt

Titel: Wie ausgewechselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudi Assauer , Patrick Strasser
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euch!‹ Danach hat mir irgendjemand so einen Fünf-Liter-Bierhumpen in die Hand gedrückt.« Der Wahnsinn ist jetzt nicht mehr zu stoppen, die Falschmeldung vom Spielende in Hamburg bahnt sich ihren Weg durch das Stadion wie eine Flutwelle. Assauer macht eine Jubelfaust, fällt allen in die Arme, erst Müller, dann Möllemann, der immer noch in seinem gelb-blauen Fallschirmspringeranzug steckt.
    Währenddessen sind die ersten Spieler im Kabinentrakt des Stadions an­gekommen, nebenan im Trainerzimmer läuft ein kleiner Fernseher: Ah, die Aufzeichnung aus Hamburg, denken sie sich. Doch als die Realität zur ­Gewissheit wird, starren alle wie paralysiert auf den Minibildschirm. Das Spiel ist gar nicht aus, es läuft noch. Huub Stevens kommt hinzugeeilt, spricht ein Stoßgebet. Draußen im Stadion erscheint inmitten der ausufernden Mega-Party plötzlich ein flackerndes Bild eines Fußballspiels auf der Videoleinwand. Es ist live. In der Bundesliga ist es eigentlich verboten, Livebilder aus anderen Stadien zu zeigen – es wirkt, als habe gerade eine höhere Macht dieses Verbot aufgehoben. Unten auf dem Rasen drehen sich die Fans Richtung Südkurve, über der die Leinwand behelfsmäßig angebracht wurde. Ganz Schalke bekommt den Mund nicht zu – als würden alle ein Ufo beobachten. Sie verstummen. Das ist echt, keine Erscheinung. In Hamburg läuft die 95. Minute, und es gibt einen indirekten Freistoß für Bayern im Strafraum des HSV, Schiedsrichter Markus Merk hat so entschieden.
    »Verursacht hat den Freistoß Torhüter Mathias Schober, ausgerechnet unser Schobi, einer der Eurofighter von 1997. Das muss man sich noch mal vor Augen führen: Es war sein drittes Saisonspiel, das zweite von Beginn an, wir hatten ihn damals nach Hamburg ausgeliehen. Ein ganz lieber Kerl. Aber wenn der Gute ein bisschen pfiffiger in dieser Sekunde gewesen wäre, hätte er den Ball nach dem Rückpass einfach mit dem Fuß auf die Tribüne gebolzt und nicht in die Hand genommen. Ich habe ihm damals keine Vorwürfe gemacht und will das auch im Nachhinein nicht tun. Aber wenn er doch – ach, Schluss damit. Und dieser Fischer vom HSV! Noch so ’ne Geschichte. Der wurde in der 90. Minute eingewechselt, die Hamburger wollten Zeit schinden. Der Typ ging ganz rechts in die Mauer, direkt am Pfosten. Die standen da mit Mann und Maus geschlossen kurz vor der Torlinie. Und wenn er da so stehen geblieben wäre, dann wäre nichts passiert. Als der Schwede Andersson von den Bayern schoss, rückte Fischer nach innen rein. Genau zwischen seinem Standbein und dem Pfosten ging der Ball rein, da hat nichts anderes dazwischengepasst. Unfassbar.«
    Das ist das 1 : 1. Abpfiff. Bayern ist Meister. Premiere-Kommentator Marcel Reif sagt in Hamburg über den Sender: »Leute, ich geb’s auf. Ich geb’s auf. Ich habe so etwas noch nicht erlebt.« Sein Kollege Fritz von Thurn und Taxis kommentiert im Parkstadion das Unkommentierbare zunächst mit nur drei Worten: »Um Gottes willen!« Er denkt weiter, sagt: »Hoffentlich tut sich hier keiner was an.« In den Katakomben des Parkstadions müssen Assauer und sein Azubi Müller erste Hilfe leisten. »Unsere Jungs waren alle fix und alle. Manchen schossen direkt Tränen in die Augen«, erzählt Müller. »Die Spieler waren wie in einer Schockstarre. Ich hatte mich schon nach ein paar Minuten wieder gefangen, war eher wütend. Alles, aber wirklich auch alles, was in diesen Minuten gegen uns hätte laufen können, ist gegen uns gelaufen. Das fühlte sich an wie eine ganz heftige Grätsche. Wenn diese Bilder heute irgendwo als Zusammenfassung im Fernsehen kommen, dann schalte ich direkt ab. Ich kann’s nicht mehr sehen.«
    Jeder im Stadion will in diesen Augenblicken stark sein, nicht weinen, die anderen trösten. Doch kaum einem gelingt es.
    »Auch ich habe geheult – und wie. Aber das tat gut, es musste raus. Wir waren fix und alle, hatten ja gedacht: Wir sind durch, wir haben es! Meister! Erstmals seit 1958! Es wäre die Krönung meiner Arbeit gewesen. In der Kabine bei den Jungs herrschte Totenstille, alle wirkten wie gelähmt, nur hier und da war ein Schluchzen zu hören. Unser Buyo, der Mike Büskens, hat am schlimmsten geweint. Dass Fußballer nur eiskalte, berechnende Profiteure sind, erzählt mir nichts davon! Ich habe ein paar Worte an die Jungs gerichtet, obwohl auch mir ganz und gar nicht danach war und ich mir blöd vorkam: ›Männer, so ist das. So ist Fußball, grausam, aber wahr.‹ Es war furchtbar. Ich

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