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Wie ausgewechselt

Wie ausgewechselt

Titel: Wie ausgewechselt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudi Assauer , Patrick Strasser
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hab mich immer gefragt: In welchem Film sind wir denn? Wann wachen wir auf? Vier Minuten, 38 Sekunden dauerte die Glückseligkeit. Die Leute hatten erst Freudentränen geweint – und danach aus Trauer und Wut.«
    Anderssons Schuss geht in Mark und Bein. Wie ein Stromschlag. Über allem ist jetzt das Knallen und Zischen des Feuerwerks zu hören, als wäre es der Spott der Bayern. Auf dem Rasen heulen Fans, liegen sich schluchzend in den Armen. Und bei manchen schlägt Trauer in Wut um.
    »Das war Beschiss. Das alles hatten wir dem Merk zu verdanken, der die vier Minuten Nachspielzeit gab. Manche lästerten später, er habe so lange spielen lassen, bis die Bayern ihr Tor machten. Und dazu noch der schlimme Fehler beim entscheidenden Freistoßpfiff. Danach hat Schiri Merk nie wieder ein Spiel auf Schalke gepfiffen. Dafür haben wir gesorgt, da haben wir beim DFB Druck gemacht.«
    Auch Merk wollte nicht mehr – eine Pause aus Selbstschutz, die er sich eigenmächtig verhängt hat. Als er im Oktober 2010 erstmals wieder in die Veltins-Arena kommt, um als Experte für TV-Sender Sky die Partie gegen den 1. FC Kaiserslautern zu analysieren, wird er mit Schmähungen und einer Bierdusche empfangen. Es fliegen Gegenstände, eine kleine Billardkugel verfehlt ihn nur knapp. Merk reagiert gelassen.
    »Wir haben am selben Abend den Bayern anstandshalber zur Meisterschaft gratuliert – auch wenn das einem noch mal einen Stich ins Herz versetzte. Damals sagte ich: ›Jetzt werden die Bayern noch mehr verachtet als vorher!‹ Was mich geärgert hat: Sie hatten unsere Tragik noch ins Lächerliche gezogen, indem sie den Begriff ›Meister der Herzen‹, eine Medienerfindung, in der Folge auch gerne benutzten. Klar hielten von dem Zeitpunkt an noch mehr Fans zu uns. Klar haben uns alle den Sieg im DFB-Pokal eine Woche später gegen Union Berlin gegönnt – aber Meister ist Meister. Und was mich ebenfalls gefuchst hat: Die ganze Saison über habe ich gebetsmühlenartig auf die Frage nach dem Titel immer wieder gesagt: ›Die Bayern werden Meister.‹ Dass ich auf so bittere Art und Weise recht behalten sollte, machte die Sache noch schwerer verdaulich. Meister der Herzen? Hör mir auf! Wir waren der Meister der Schmerzen!«
    Dran glauben muss an diesem Tag zunächst die Kabine der Gastgeber im Parkstadion. Die Schalker Spieler machen ihrem Ärger Luft. Flaschen und Stühle fliegen, Fernseher gehen kaputt, Bänke und Türen werden demoliert. Die Reparaturkosten übernimmt der Verein. Trainer Stevens denkt sofort an die Folgeschäden – an die psychologischen. Daher trommelt er seine Spieler zusammen und bläut ihnen ein, an das DFB-Pokalfinale am darauffolgenden Samstag zu denken. Er sagt: »Männer, wir haben mehr erreicht, als alle erwarten konnten. Darauf bin ich stolz – großes Lob. Und: So schwer das alles auch zu verschmerzen ist, schüttelt diese Niederlage bitte von euch ab. Versucht, sie zu vergessen. Schaltet ein wenig ab. Mit dem DFB-Pokal wartet noch ein Titel auf euch. Wir müssen den Pokal gewinnen – für uns, für den Verein, für unsere Fans.« Um das Erlebte zu verarbeiten, gibt er zwei Tage frei. Erst am Dienstag sollen sie wieder zum Training erscheinen. Dann schickt er die Spieler raus zu den geschockten Fans, die noch im Stadion ausharren. Sie klettern auf die Haupttribüne, winken von einer Balustrade mit letzter Kraft – schwer gezeichnet. Der Stadionsprecher spielt » You’ll never walk alone« . Da fließen sogar beim knochigen, bisher relativ gefassten Stevens die Tränen. Die ersten Interviews mit den Reportern sind Versuche, die Emotionen zu beschreiben. Auf der Pressekonferenz weint Rudi Assauer ein weiteres Mal.
    »Dann habe ich den Satz gesagt, den viele Leute später als die kürzeste und zutreffendste Analyse eingestuft haben, und zwar: ›Wenn das alles wahr ist, wie die ganze Kiste gelaufen ist, dann muss ich sagen: Es gibt doch keinen Fußballgott.‹ Da hat mich nur einer getoppt. Unser Stürmer Ebbe Sand meinte auf seine trockene dänische Art: ›Wenn es einen Fußballgott gibt, dann ist er Bayern-Fan.‹«
    Auch auf der Geschäftsstelle direkt neben dem Parkstadion harren rund 100 Fans noch lange in den Samstagabend hinein aus. Als würden sie auf jemanden warten, der sie aus der Hypnose erwachen lässt. Nach Hause wollen sie nicht. Assauer kommt aus seinem Büro und ruft vom Balkon zu ihnen herunter: » Es gibt gewisse Dinge im Fußball, die sind nicht beeinflussbar. Wir haben alles dafür

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