Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
war, als ihre Eltern sich scheiden ließen. Von einem Tag auf den anderen war Ally verschwunden, weil sie bei ihrer Mommy wohnen sollte, die umgezogen war. »Ich kann sie sehen, bleib aber bei dir, stimmt’s, Daddy? Stimmt’s?«
»Stimmt, Gracie. Ganz genau.« Doch zum ersten Mal im Leben glaubte sie ihrem Dad nicht.
»Ich bleibe bei dir«, beharrte sie stur.
Die letzten vierundzwanzig Stunden hatte Lexi in einer Achterbahn der Gefühle zugebracht, in der Hoffnung sie nach oben und Angst sie nach unten katapultierte. Trotzdem hatte sie die ganze Zeit geplant und organisiert. Sie hatte alle Briefe, die sie ihrer Tochter im Gefängnis geschrieben hatte, in einen Schuhkarton gepackt und mit einer Schleife verziert. Das war ihr Geschenk für ihre Tochter. Mehr hatte sie nicht.
Und dann wartete sie ungeduldig.
Endlich war es Zeit. Sie stieg auf ihr geliehenes Rad und fuhr aus der Stadt.
An der Einfahrt der Farradays wurde sie langsamer und fuhr vorsichtig über den Kies. Nachdem sie das Rad an der Garage abgestellt hatte, warf sie sich ihre alte mitgenommene Tasche über die Schulter und ging zur Haustür. Dort holte sie tief Luft und klingelte.
Fast sofort öffnete Jude. Ihr Gesicht war bleich, ihr Blick eisig. Da sie sich nicht geschminkt hatte, wirkte sie gleichzeitig älter und jünger. Ihre blonden Haare – die dringend nachgefärbt werden mussten – waren zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasst, und sie trug eine naturweiße Wollhose und einen mittelgrauen Pullover. Alles in allem wirkte sie so farblos, als wäre sie aus Wolken gemacht. »In Zukunft klopf bitte. Ich mag die Klingel nicht. Komm herein.«
Lexi stand nur da, weil Jude Farradays Blick sie daran erinnerte, was sie getan hatte.
Jude trat zurück, um Lexi ins Haus zu lassen. Der grüne Pullover hing noch da.
»Eine Stunde«, erklärte Jude. »Und ihr bleibt im Wohnzimmer.«
Lexi nickte. Da sie den Schmerz in Judes Blick nicht länger ertrug, ging sie an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Die Sonne schien durch die großen Fenster und brachte das Tropenholz zum Leuchten. Im riesigen Kamin brannte ein Feuer und heizte den Raum unnötig auf.
Als Lexi eintrat, stand Grace auf. Das kleine Mädchen hatte eine gelbe Bluse und eine hellblaue Latzhose an. Kleine blonde Zöpfchen fielen ihr wie Apostrophe über die Ohren.
»Hi«, sagte Grace fröhlich. »Ich warte auf meine Mommy.«
»Ich bin Lexi«, sagte Lexi nervös.
» Du bist Lexi?«, fragte Grace.
»Ja.«
Grace sah sie argwöhnisch an. »Du bist meine Mommy?«
Lexi musste sich erst räuspern. »Ja.«
Grace quietschte auf und rannte auf Lexi zu.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben nahm Lexi ihre Tochter auf den Arm und drückte sie so fest an sich, dass Grace anfing, sich zu winden. Sie ließ sich zu Boden gleiten, packte Lexis Hand und zog sie zum Sofa, wo sie gemeinsam Platz nahmen.
Grace kuschelte sich an Lexi. »Willst du was spielen?«
»Können wir noch eine Minute nur so dasitzen? Es ist so schön, dich wieder im Arm zu halten.«
»Wieso wieder ?«
»Als du geboren wurdest, hat dich der Arzt zum ersten Mal in meine Arme gelegt. Du warst ganz klein und rosa. Deine Faust war so groß wie eine Weintraube.«
»Wieso hast du mich nicht behalten wollen?«
»Ich wollte dich behalten«, sagte Lexi, weil sie die Verwirrung in Grace’ grünen Augen bemerkte. »Ich wollte dich wie verrückt.« Sie gab Grace die Schuhschachtel mit den Briefen. »Ich habe dir diese Briefe geschrieben.«
Grace sah stirnrunzelnd auf die zerknitterten Briefe in der angestaubten Schachtel, und Lexi überkam ein Anflug von Scham, als wäre ihre Liebe so alt und verjährt wie ihr Geschenk. »Ach.«
»Ich weiß, es ist kein tolles Geschenk.«
»Mein Daddy hat mich von der ersten Sekunde an geliebt.«
»Ja, das hat er.«
Grace’ Unterlippe zitterte kaum merklich. »Er sagt, du hast mich Grace genannt, und er nannte mich Mia.«
»Er liebte seine Schwester mehr als jeden anderen auf der Welt. Ausgenommen dich.«
Grace blickte zu Lexi auf. »Hast du sie gekannt?«
Lexi hörte, wie Jude scharf Luft holte. Sie sah auf. Quer über den ganzen Raum hinweg trafen sich ihre Blicke.
»Sie war meine beste Freundin auf der ganzen Welt«, sagte Lexi. »Mia Eileen Farraday. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du so aussiehst wie sie. Sie spielte einem gerne Streiche. Hat man dir das schon erzählt? Sie hat Klarsichtfolie über die Toilette deines Daddys gespannt. Und sie konnte überhaupt nicht singen, wusste das
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