Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Handtasche über die Schulter, ging zum Wagen und fuhr los. Als sie um die Ecke bog, blitzte die Sonne auf dem blauen Wasser unter ihr und funkelte aus einigen Fenstern an beiden Seiten des Ufers. Ein wunderschöner Tag.
Auf der Night Road fuhr sie langsamer. Es war Jahre her, dass sie das letzte Mal gewagt hatte, in diese Straße einzubiegen, die alles in ihrem Leben verändert hatte. Jetzt war es endlich Zeit, sich ihr zu stellen.
Sie bog ein und fuhr weiter. Dann, nach ungefähr einer halben Meile, fuhr sie rechts ran und hielt. Langsam stieg sie aus und überquerte die Straße.
Die Überreste der Gedenkstätte waren kaum noch zu sehen.
Sie stand an der Haarnadelkurve der Night Road.
Hier im Wald war es dunkel, selbst am helllichten Tag. Riesige, uralte Nadelbäume ragten zu beiden Seiten der Straße dicht an dicht in die Höhe, und ihre mit Moos bewachsenen, schnurgeraden Stämme ließen keinen Sonnenstrahl bis nach unten dringen. Der brüchige Asphalt der Straße lag in tiefem Schatten. Alles war reglos und still. Als hielte es den Atem an und wartete.
Lange konnte sie hier nicht bleiben. Wenn jemand sie hier auf der einsamen Straße sähe, würde das Gerede wieder von vorn anfangen, und man würde sich Sorgen um sie machen. Dennoch schloss sie die Augen, nur einen Moment, und erinnerte sich an die Nacht vor langer Zeit, als der Regen zu Asche wurde …
Sie ließ es los.
Schließlich kehrte sie zu ihrem Wagen zurück und fuhr von der Insel.
In knapp einer halben Stunde war sie am Ziel. Das überraschte sie, hatte sie doch irgendwie gedacht, es sei weiter entfernt. Schließlich hatte sie Jahre gebraucht hierherzukommen.
Der Friedhof war eine sanft geschwungene Parklandschaft mit gepflegtem Rasen, der mit den Dekorationsstücken des Todes versehen war: Grabsteine, Skulpturen, Steinbänke.
Sie holte tief Luft. »Komm schon, Judith. Das schaffst du.« Sie holte vom Rücksitz die drei rosafarbenen Luftballons, die sie am Vortag in einem Blumenladen gekauft hatte. Sie umklammerte die Schnüre und stieg aus. Im Geiste ging sie die Wegbeschreibung durch, die sie sich gestern angesehen hatte, aber das war eigentlich unnötig. Sie hätte ihr Kind auch blind gefunden …
Und da war der Grabstein. Ein glatter Block aus Granit, in den Mias Gesicht gemeißelt war.
Mia Eileen Farraday
1986–2004
Geliebte Tochter und Schwester,
auf ewig unvergessen.
Auch ein kleines Organspendezeichen war dort angebracht und zeigte an, dass Mia Leben gerettet hatte.
Mit den albernen Luftballons in der Hand starrte Jude auf das Bild ihrer Tochter. Selbst auf Granit wirkte Mias Lächeln strahlend.
»Verzeih, dass ich erst jetzt komme. Ich … konnte nicht früher«, sagte sie schließlich, und als sie einmal angefangen hatte zu reden, konnte sie nicht mehr aufhören. Sie setzte sich auf eine Granitbank und erzählte Mia alles.
Jahrelang hatte Jude befürchtet, sie könnte ihre Tochter vergessen, und mit der Zeit würden die Erinnerungen an sie verblassen, bis ihr nichts mehr blieb, aber als sie jetzt mit den Luftballons in der Sonne saß, erinnerte sie sich an alles: wie Mia als Kind am Daumen gelutscht hatte und die Satinpfötchen ihres Stofftieres gestreichelt hatte; wie sie anfing zu rennen, kurz bevor sie Jude vor der Schule sah; wie sie ihre Orangen ausschließlich filetiert aß und jedes einzelne Fitzelchen Haut entfernte; wie eilig sie es hatte, erwachsen zu werden.
»Ich hab dir diesen Ring gekauft … vor langer Zeit«, fuhr Jude fort und spürte, wie gleichzeitig Trauer und Freude in ihr aufkamen. Seltsam, dass sie in Augenblicken wie diesen koexistieren konnten. »Ich kaufte ihn für ein achtzehnjähriges Mädchen, das ich für meine Zukunft hielt.« Sie starrte auf den rosafarbenen Diamanten. Er glitzerte im Sonnenlicht.
Sie würde sich jedes Mal an etwas von ihrer Tochter erinnern, wenn sie diesen Ring ansah. Manchmal würde sie auch weinen, aber das war in Ordnung, weil sie manchmal vielleicht auch lächeln würde. Oder gar lachen.
Dies hatte sie in den vergangenen Wochen gelernt. Im tiefen Meer der Trauer gab es Inseln der Gnade, Augenblicke, in denen man nicht daran dachte, was man verloren hatte, sondern daran, was einem geblieben war.
Sie stand auf und ließ die Luftballons los. Sie stiegen sofort in die Höhe und tanzten und wirbelten von einem unsichtbaren Luftstrom getragen herum, so als hätte ein ungeduldiges kleines Mädchen nach ihnen gehascht und sie verfehlt. Von den Bäumen hörte Jude ein
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