Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
gelesen, als die Haustür aufging und Zach hereinkam. Er wirkte nervös und aufgewühlt.
»Hey, Mom«, sagte er und schleuderte seinen Rucksack auf den Boden. Er rutschte über die Holzdielen und knallte gegen die Wand. Zach strich sich ungeduldig das Haar aus dem Gesicht. »Wie ist es heute mit Lexi gelaufen?«
War das immer so gewesen?, fragte sie sich unwillkürlich. Hatte sein erster Gedanke immer Lexi gegolten? Und wenn ja, wie schwer war es ihm gefallen, das zu verdrängen?
»Hör dir mal das an«, bat Jude.
»Kann das nicht warten? Ich will wissen …«
»Es ist ein Brief, den Lexi im Gefängnis an Grace geschrieben hat.«
»O Mann …« Zach ließ sich auf den Fernsehsessel am Kamin fallen.
Jude sah, dass er Angst davor hatte, den Brief zu lesen, und das verstand sie. Es war leichter, Kummer zu unterdrücken, als ihn zu überwinden. Zumindest waren sie beide davon überzeugt gewesen. Sie räusperte sich und fing an zu lesen:
Liebe Grace,
als ich Dich bekam, war ich achtzehn. Mir kommt es ein bisschen albern vor, dies zu schreiben, weil ich jetzt erst neunzehn bin, aber ich dachte, das sei etwas, was Du über mich wissen möchtest.
Ich wünschte, ich könnte Dich vergessen. Das klingt schrecklich, aber wenn Du alt genug bist, diesen Brief zu lesen, weißt Du bereits, wer ich bin und was ich getan habe. Warum ich Dir keine Mutter sein kann.
Daher wünschte ich, ich könnte Dich vergessen.
Aber das kann ich nicht.
Jeden Morgen, wenn ich hier aufwache, gilt mein erster Gedanke Dir. Ich frage mich, ob Deine Augen grün sind wie die Deines Dads oder blau wie meine. Ich frage mich, ob Du schon die Nacht durchschläfst. Wenn ich könnte, würde ich Dich jeden Abend in den Schlaf singen. Obwohl ich keine Schlaflieder kenne.
Ich hab Dich schon geliebt, bevor ich Dich das erste Mal sah. Wie ist das möglich? Aber so war es, und dann habe ich Dich im Arm gehalten und schließlich Zach gegeben.
Was sollte ich tun? Hätte ich Dich zwingen sollen, mich hier zu besuchen und nur durch Gitter zu sehen? Ich weiß, wie schlimm das ist.
Ich hab irgendwo gelesen, dass Trauer so schlimm sein kann wie ein Knochenbruch. Man muss alles wieder richten, sonst tut es für immer weh. Ich bete darum, dass Du mich eines Tages verstehst und mir verzeihst.
Ich werde Dir diesen Brief nicht schicken. Aber vielleicht suchst Du eines Tages nach mir, wenn Du erwachsen bist, dann habe ich einen ganzen Karton Briefe, den ich Dir geben kann. Er zeigt: Siehst Du? Ich habe Dich geliebt. Vielleicht glaubst Du mir sogar.
Zumindest weiß ich, dass Du bis dahin sicher und geborgen bist. Früher habe ich davon geträumt, eine Farraday zu sein. Du hast so viel Glück, eine solche Familie zu haben. Wenn Du traurig bist, geh zu Miles. Er kann Dich immer zum Lachen bringen. Oder bitte Jude um eine Umarmung – niemand umarmt einen besser als Deine Grandma.
Und dann ist da natürlich Dein Dad. Wenn Du es zulässt, zeigt er Dir alle Sterne am Himmel und gibt Dir das Gefühl, Du könntest fliegen.
Also werde ich mir um Dich keine Sorgen machen, Gracie.
Ich werde versuchen, Dich zu vergessen. Es muss sein, so leid es mir tut.
Es tut einfach zu weh, Dich zu lieben.
Jude blickte zu ihrem Sohn. Er hatte Tränen in den Augen und sah wieder aus wie früher, wie ihr Goldjunge Zach. Und da erinnerte sie sich auch an die junge Lexi, das Mädchen mit dem großen Herzen, das Mia die beste Freundin gewesen war, die sie je gehabt hatte. Sie erinnerte sich an das Mädchen aus dem Wohnwagenpark, das nie die Liebe einer Mutter erfahren hatte und doch immer mit einem Lächeln auf den Lippen erschien. »Es lief heute nicht gut zwischen Lexi und Grace. Lexi hat’s vermasselt.«
»Wie denn?«
»Sie war zu schnell, bedrängte Grace, bevor sie bereit war.«
»Sie hat eben keine Erfahrungen als Mom. Woher auch.«
»Die hat am Anfang niemand«, sagte Jude leise. »Ich weiß noch, wie überwältigt ich war, als ich dich … und Mia bekam.«
»Du warst eine tolle Mom.«
Jude konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Früher vielleicht. Aber jetzt nicht mehr. Ich war sehr lange nicht mehr deine Mom, das wissen wir beide. Ich hab das … verloren. Ich dachte …« Sie hielt inne und zwang sich, ihn wieder anzusehen. »Ich gab dir die Schuld. Obwohl ich wusste, dass ich das nicht tun sollte. Und ich hab Lexi die Schuld gegeben. Und mir.«
»Es war nicht dein Fehler. Wir hätten es besser wissen müssen … in jener Nacht«, erwiderte er.
Bei der Erinnerung daran
Weitere Kostenlose Bücher