Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
vielleicht kein richtiger Bezugspunkt, aber mehr kannte Lexi nicht, und plötzlich hatte sie Angst, diesen noch so dürftigen Halt zu verlieren.
»Und was ist, wenn sie nicht kommt?«, fragte Lexi.
Miss Watters streckte Lexi ihre Hand mit den knotigen, dick geäderten Fingern entgegen. »Sie wird kommen.«
Lexi holte tief Luft. Sie schaffte das. Natürlich schaffte sie das. Sie hatte in den letzten fünf Jahren sieben verschiedene Pflegefamilien gehabt und sechs verschiedene Schulen besucht. Sie würde es überleben.
Sie nahm Miss Watters’ Hand, dann zwängten sie sich hintereinander zwischen den Sitzen des Busses hindurch zum Ausstieg.
Draußen nahm Lexi ihren abgewetzten roten Koffer, der fast zu schwer war, weil größtenteils Bücher darin waren – das Einzige, das Lexi etwas bedeutete. Sie zerrte ihn zum Rand des Bürgersteigs und blieb dort stehen, direkt am Bordstein. Der schmale Betonstreifen kam ihr vor wie eine gefährliche Klippe. Ein falscher Schritt, und sie konnte kopfüber auf die befahrene Straße fallen oder sich etwas brechen.
Miss Watters stellte sich zu Lexi und spannte einen Schirm auf. Der Regen prasselte dröhnend auf den Stoff.
Die anderen Fahrgäste stiegen nacheinander aus und verschwanden.
Lexi blickte sich auf dem leeren Parkplatz um und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Wie oft schon war sie in genau dieser Lage gewesen? Jedes Mal, wenn Momma entgiftet hatte, war sie ihre Tochter holen gekommen. Gib mir noch eine Chance, Kleine. Sag dem netten Richter hier, dass du mich liebhast. Diesmal mach ich’s besser … ich werde dich nie mehr vergessen. Und jedes Mal hatte Lexi gewartet. »Wahrscheinlich hat sie es sich anders überlegt.«
»Auf keinen Fall, Lexi.«
»Könnte doch sein.«
»Du hast eine Familie, Lexi.« Als Miss Watters diese ominösen Worte wiederholte, gab Lexi auf. Hoffnung beschlich sie.
»Familie«, sagte sie langsam und vorsichtig. Das Wort war unvertraut und zerging süß wie ein Bonbon auf ihrer Zunge.
Da näherte sich ein alter blauer Ford Fairlane und hielt vor ihnen. Der Wagen war rostig und hatte eine verbeulte Stoßstange. Ein gesprungenes Fenster wurde mit Klebeband zusammengehalten.
Langsam ging die Fahrertür auf, und eine Frau stieg aus. Sie war klein, hatte graue Haare, wässrig braune Augen und fahle Haut, so als wäre sie Kettenraucherin. Erstaunlicherweise kam sie Lexi vertraut vor – wie eine alte, faltige Version von Momma. Lexi fuhr wieder das Unwort durch den Sinn, doch diesmal hatte es Bedeutung: Familie.
»Alexa?«, fragte die Frau mit leicht heiserer Stimme.
Lexi brachte keinen Ton heraus. Diese Frau hätte lächeln sollen, oder sie gar umarmen, aber Eva Lange stand einfach nur da und musterte sie mit tiefzerfurchter Miene.
»Ich bin deine Großtante. Die Schwester deiner Großmutter.«
»Ich hab meine Großmutter nie kennengelernt«, erwiderte Lexi. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
»Ich dachte die ganze Zeit, du würdest bei der Familie deines Daddys leben.«
»Ich hab keinen Dad. Das heißt, ich kenne ihn nicht. Momma wusste nicht, wer mein Vater ist.«
Tante Eva seufzte. »Das weiß ich jetzt auch, dank Miss Watters hier. Sind das all deine Sachen?«
Lexi spürte, wie Scham sie überkam. »Ja.«
Sanft nahm Miss Watters ihr den Koffer ab und stellte ihn auf den Rücksitz des Wagens. »Los, Lexi. Steig ein. Deine Tante möchte, dass du bei ihr bleibst.«
Ja, jetzt noch.
Miss Watters drückte Lexi heftig an sich und flüsterte: »Keine Angst.«
Lexi klammerte sich fast zu lange an sie. In der letzten Sekunde, kurz bevor es peinlich wurde, löste sie sich von ihr und taumelte einen Schritt zurück. Sie ging zu dem alten Wagen und riss an der Tür. Klappernd und quietschend schwang sie auf.
Die Sitzbänke im Wagen waren aus braunem Kunststoff, aus dem schon die graue Füllung quoll. Es roch nach kaltem Rauch und Pfefferminz, so als wären schon eine Million Mentholzigaretten hier drinnen geraucht worden.
Lexi rückte so weit wie möglich an die Tür. Sie winkte Miss Watters durch die gesprungene Fensterscheibe, und als sie losfuhren, sah sie zu, wie ihre Betreuerin immer mehr im grauen Dunst verschwand. Sie legte die Fingerspitzen auf das kalte Glas, als könnte die Berührung sie mit der Frau, die sie nicht mehr sah, in Verbindung halten.
»Es tat mir leid, als ich vom Tod deiner Mutter hörte«, sagte Tante Eva nach langem, unbehaglichem Schweigen. »Aber sie ist jetzt an einem besseren Ort. Das ist dir bestimmt ein
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