Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
und Spuren von Mias kurzem Leben. Jahrbücher. Fußball- und Volleyballpokale. Ein altes rosafarbenes Tutu, das einst einer Sechsjährigen gepasst hatte. USC -Sweatshirts. Nackte Barbiepuppen und ein paar alte, verschrammte weiße Babyschuhe. Alles außer dem Tagebuch, das sie nie gefunden hatte.
Sie holte jeden einzelnen Gegenstand heraus, drückte ihn ans Gesicht und roch daran. Obwohl sie jahrelang geweint hatte, fühlten sich ihre Tränen jetzt neu an, heißer. Sie brannten in ihren Augen, auf ihren Wangen. Ganz unten im Karton lag ein gerahmtes Foto von Mia, Zach und Lexi. Sie hatten die Arme lässig umeinandergelegt und lächelten strahlend und unbekümmert.
Sie hörte sie fast lachen.
Mia wäre auf meiner Seite gewesen.
Seltsamerweise brachte dieser eine Satz Mia so deutlich zurück, als wäre sie gerade durch die Tür gekommen und hätte lachend Hey, madre gesagt. Und es wäre nicht eine der immer gleichen Erinnerungen an sie gewesen, sondern Mia selbst, mit ihrem Megawattlächeln, den verrückten Klamotten und all ihrer Unsicherheit.
Mia wäre wirklich auf Lexis Seite. Der Gedanke daran beschämte Jude zutiefst. Ihre Mutter hatte an das Schlechteste in Jude appelliert – das hast du natürlich abgelehnt. Aber Lexi hatte an das Beste in ihr appelliert.
Früher warst du die beste Mutter der Welt.
Mit diesem Satz stiegen Erinnerungen in ihr auf, und Jude war einfach zu erschöpft und ausgelaugt, um sie zu verdrängen. Sie dachte daran, wie Mia in ihrem Abschlussjahr gewesen war: eine stille, nachdenkliche Achtzehnjährige, die nicht wusste, wie schön sie war, die sich zum ersten Mal verliebt hatte, der zum ersten Mal das Herz gebrochen wurde. Ein Mädchen, das bedingungslos liebte und sich über die einfachsten Dinge freute – über einen alten Stoffhasen, einen Disneyfilm, eine Umarmung von ihrer Mutter.
Da spürte Jude, wie etwas in ihr riss, so als löse sich ein Muskel vom Knochen.
Hola, madre , wie war dein Tag?
Beide Kinder hatten gemeint, nach einem Jahr Spanisch schon fließend zu sprechen. Früher hatte Jude darüber gelacht – was sie auch wussten.
Eine Ewigkeit saß sie nur da und dachte zum ersten Mal seit Jahren an Mia – erinnerte sich wirklich an sie. In diesen Erinnerungen fand sie ein Stück von sich selbst wieder. Und schämte sich, was aus ihr geworden war.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dort gesessen hatte.
Als sie schließlich auf ihre Uhr sah, war sie überrascht, dass es schon Zeit war, Grace von der Tagesstätte abzuholen. Früher hätte sie an einem Tag wie diesem ihre Enkelin einfach vergessen. Sie hätte stundenlang hier gesessen und wäre vielleicht sogar eingeschlafen. Jetzt ging sie hinunter, nahm die Autoschlüssel, fuhr zur Kinderbetreuung und kam gerade rechtzeitig an.
»Hey, Nana«, begrüßte Grace sie verhalten, als Jude auftauchte, und Jude fuhr plötzlich schmerzhaft durch den Sinn, was Lexi gesagt hatte: Sie hat Angst vor dir.
Auf der kurzen Fahrt zu Zachs Haus beobachtete Jude ihre Enkelin im Rückspiegel.
Grace sah Mia so ähnlich, aber dieses eine Mal schmerzte Jude nicht ihre Ähnlichkeit, sondern die Unterschiede zwischen den beiden. Mia und Zach hatten ständig gelacht und geredet, hatten wie zwei Miniforscher ihre Welt erkundet, waren glücklich und selbstsicher gewesen … und voller Vertrauen, weil sie geliebt wurden.
Jude parkte den Wagen und half ihrer Enkelin aus dem Kindersitz. Grace kletterte aus dem Wagen und hüpfte zum Haus.
»Wollen wir was spielen?«, fragte Jude und schloss zu ihr auf.
Verblüfft schaute Grace sie an. » Du willst mit mir spielen?«
»Aber sicher.«
»Super!« Grace rannte ins Haus. Ein paar Sekunden später kam sie mit einem bunten Rutschen und Leitern- Spiel aus ihrem Zimmer zurück. »Bist du bereit?«
Jude folgte Grace zum Tisch.
»Als du aus der Betreuung kamst, wirktest du ziemlich still«, stellte Jude fest und setzte einen Spielstein vor.
Grace zuckte mit den Schultern.
»War was?«
Wieder zuckte Grace mit den Schultern. »Jakes Mom hat Süßigkeiten mitgebracht.«
»Und du hast keine bekommen?«
»Doch, schon.« Grace starrte auf das Spielbrett.
»Ah«, sagte Jude, als sie begriff. »Seine Mom hat Süßigkeiten mitgebracht.«
»Jede Mom bringt manchmal was mit.«
Jude lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Das kam wohl kaum überraschend. Achtzehn Jahre lang war sie die Mom gewesen, die Süßigkeiten mitgebracht hatte. Sie war die Party-Mom gewesen, die Ausflugs-Mom, die ständige
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