Wie Blüten im Wind: Roman (German Edition)
Sachen zusammen, dann fahren wir.«
Während Grace ihr Spielzeug zusammensuchte, ging Jude langsam durchs Wohnzimmer. Ein, zwei Minuten lang starrte sie auf die Schachtel mit den Briefen.
»Ich bin fertig«, verkündete Grace und drückte sich ihre gelbe Decke an die Wange.
Jude ergriff die Schuhschachtel und nahm sie mit zum Wagen. Sie schnallte Grace in ihrem Kindersitz an und stellte die Schachtel mit den Briefen auf den Sitz neben sie. Dort schienen sie unnatürlich viel Raum einzunehmen.
Jude merkte, wie aufgewühlt ihre Enkelin war, und hätte sie gerne getröstet, aber durch die vielen Jahre, in denen sie sie missachtet hatte, waren sie einander entfremdet. Grace erwartete von ihrer Großmutter nicht mal Trost. »Es ist ganz normal, wenn du aufgebracht bist, Gracie. Ich wette, es war ziemlich verwirrend, deine Mom zu treffen.«
Grace ignorierte sie und flüsterte weiterhin laut zu ihrem Handgelenk.
Eine ganze Weile, vielleicht länger als je zuvor, starrte Jude ihre Enkelin an. Dann trat sie zurück und schloss die Wagentür. Auf dem Weg zu Zachs Haus versuchte sie ein paarmal, ein Gespräch anzufangen, aber Grace antwortete nicht. Das kleine Mädchen wiederholte immer nur flüsternd komm zurück, Ariel, ich brauch dich echt dringend, und Jude musste an ein anderes kleines Mädchen denken, das vor vielen, vielen Jahren genau wie Grace ständig mit seinem Bruder geflüstert hatte, in einer Sprache, die nur er verstand.
An der Blockhütte angekommen, parkte Jude und half Grace aus dem Kindersitz.
Sie nahm Grace’ Händchen. »Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?«
Grace wirkte misstrauisch, sagte aber schließlich: » Ist gut.« Allerdings so zögernd, als erwartete sie, dass Jude ihr Angebot zurücknähme und sie auslachte.
Schweigend gingen sie ins Haus. Grace steuerte sofort ihr Zimmer an, schnappte sich ihre Lieblingspuppe, die silbrig-weiße Prinzessin, kletterte in ihr weißes verschnörkeltes Bett und zog die bunte Wall-E-Decke über sich. »Ich lutsche am Daumen«, verkündete sie trotzig.
Jude musste lächeln. »Das ist vielleicht eine gute Idee.« Sie steckte sich ebenfalls den Daumen in den Mund.
Grace lächelte. »Du bist zu alt dazu.«
Jude lachte und ging zum Bücherregal.
Ein dünnes Buch mit weißem Umschlag fiel ihr ins Auge. Langsam zog sie es aus der Bücherreihe und setzte sich neben Grace. Sie schlug es auf und fing an zu lesen: »An dem Abend, als Max seinen Wolfspelz trug und nur Unfug im Kopf hatte, schalt seine Mutter ihn ›Wilder Kerl‹ …«
Die Worte versetzten Jude zurück in ein Zimmer voller Actionfiguren und Plastikdinos, zu einem kleinen Jungen, der immer lachte und beim Vorlesen nur zuhörte, wenn seine Schwester neben ihm saß. Die Erinnerung war spürbar deutlich. Eine Sekunde lang war sie wieder eine junge Mutter auf einem großen Bett, mit einem Kleinkind in jedem Arm und einem Buch auf dem Schoß …
»Das ist doch nicht traurig, Nana. Warum weinst du denn?«
»Ich hab vergessen, wie sehr ich dieses Buch mochte. Es erinnert mich an … meine Kinder.« Zum ersten Mal seit Jahren sprach sie das heikle Wort aus. Kinder. Sie hatte zwei.
»Ich mag es auch«, erklärte Grace ernst und rückte näher zu Jude, schmiegte sich fast schon an sie. Eine ganze Weile saßen sie so beieinander, während Jude die Geschichte vorlas. Als sie das Buch schließlich zuschlug und zur Seite blickte, schlief Grace.
Sie küsste sie auf die rosige weiche Wange, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Im Wohnzimmer warteten die Briefe auf dem Couchtisch auf sie.
Sie waren nicht für sie gedacht.
Dennoch starrte sie auf die Briefe, die wie ein Akkordeon auseinandergefächert waren. Die Umschläge waren nicht zugeklebt, das konnte sie sehen. Vielleicht hatte Lexi noch mal lesen wollen, was sie im Laufe der Jahre geschrieben hatte.
Schließlich nahm sie die ganze Schachtel und setzte sich damit hin. Lange starrte sie auf die Briefe auf ihrem Schoß. Sie wusste, dass sie sie nicht lesen sollte.
Nur einen. Nur um zu sehen, ob sie Zach das Herz brechen werden …
Sie nahm den ersten Umschlag aus der Schachtel und öffnete ihn. Der Brief darin war auf billigem weißen Papier geschrieben. Darauf waren graue Flecken zu sehen. Tränen.
Dieser Brief trug das Datum November 2005. Lexi hatte lange gebraucht, ihren ersten Brief zu schreiben.
Jude begann zu lesen, obwohl sich ihre Brust langsam zusammenzog wie bei einem Panikanfall. Sie hatte erst die Anfangssätze
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