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Wie die Iren die Zivilisation retteten

Wie die Iren die Zivilisation retteten

Titel: Wie die Iren die Zivilisation retteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Cahill
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seiner
    Vorfahren – und belebt jeden Gedanken.
    Als er mit seinem Mitstreiter Alypius spricht, bricht er in unkontrolliertes Weinen aus. Dieser »mächtige Tränenregen«, wie er es nennt, kommt wie aus dem Nichts über ihn – »aus der geheimen Tiefe meiner Seele«. Verwirrt läuft er aus dem Haus in den Garten und wirft sich unter einen Feigenbaum, »meinen Tränen freien Lauf lassend«. Er schluchzt scheinbaren Unsinn, den er selbst nicht versteht: »Und Du, o Herr, wie lange? Wie lange, o Herr! Wirst du immer zornig sein?«
    Dann hört er aus dem Haus, das an den Garten angrenzt, eine Kin-
    derstimme, die ihrerseits Unsinn vor sich hin singt: »tolle, lege, tolle, lege« (»Nimm, lies, nimm, lies«). Da er dieses Kinderlied nie zuvor gehört hat, nimmt er es als Zeichen. Er kehrt ins Haus zurück und greift sich ein Buch vom Tisch (an dem der verwirrte Alypius immer noch sitzt), in dem er gerade gelesen hat: eine Ausgabe der Paulusbriefe. Wie man es in der Antike gern tat, schlägt er das Buch an irgendeiner Stelle auf, um im ersten Satz, der ihm ins Auge fällt, eine heilige Botschaft zu entdecken. Der Satz, den er liest, lautet: »Nicht in Fressen und Saufen, nicht Wollust und Unzucht, nicht in Hader und Neid; sondern ziehlt an den Herrn Jesus Christus und wartet des
    Leibes nicht so, daß ihr seinen Begierden verfallet.«
    Es hat Augustinus erwischt. Er unterwirft sich dem Tod des Flei-
    sches durch die Taufe – und dem christlichen Gott.
    Wir haben Augustinus als eine Art Linse benutzt, durch die wir die klassische Welt betrachten konnten. Im Jahrhundert der barbarischen Invasionen geht die Literatur verloren – der Gehalt der klassischen Zivilisation. Wäre die Zerstörung vollendet worden, wäre jede Biblio-55
    thek aufgelöst, jedes Buch verbrannt worden, hätten wir vielleicht auch Homer und Vergil und die gesamte klassische Dichtkunst verloren. Herodot und Tacitus und die gesamte klassische Geschichte,
    Demosthenes und Cicero und die gesamte klassische Rhetorik, Platon und Aristoteles und die gesamte griechische Philosophie, Plotinus und Porphyrios und alle späteren Kommentare. Wir hätten den Geschmack und Geruch einer gesamten Zivilisation verloren. Zwölf
    Jahrhunderte lyrischer Schönheit, ergreifender Tragödie, intellektueller Forschung, Lehre, Sophistik und Liebe zur Weisheit – der Gipfel des antiken gebildeten Diskurses – wären samt und sonders im Abfluß der Geschichte verschwunden. Bis auf einige Zeilen von Sappho und einen Großteil der Werke der griechischen Tragödiendichter –
    Aischylos, Sophokles und Euripides – verschwunden alles im Abfluß.
    Und beinahe hätten wir die gesamte lateinische Literatur verloren.
    Auf jeden Fall ging der Geist der klassischen Zivilisation verloren.
    »In bestimmten Epochen«, schreibt Kenneth Clark in Civilisation , »ist dem Menschen an sich selbst – an Körper und Geist – etwas bewußt
    geworden, das außerhalb des täglichen Kampfes ums Überleben und
    des nächtlichen Kampfes gegen die Angst lag; und er hatte das Be-
    dürfnis, diese Sorte von Gedanken und Gefühlen zu entwickeln, um
    sie soweit wie möglich einem Ideal von Perfektion anzunähern: Ver-nunft, Gerechtigkeit, physische Schönheit, und alles im Gleichge-
    wicht. Es gelang ihm, dieses Bedürfnis auf verschiedene Arten zu
    befriedigen: durch Mythen, durch Tanz und Gesang, durch philoso-
    phische Systeme und durch die Ordnung, die er der sichtbaren Welt gab.« Nun erlangen der Existenzkampf und der Kampf gegen die
    Angst wieder die Oberhand, und was von der klassischen Zivilisation bleibt, ist hinfort nicht mehr im Leben zu finden, sondern zwischen Buchdeckeln.
    Wenn eine Zivilisation müde und klein wird, ist der eigentliche
    Verlust der an Vertrauen; Vertrauen in die Ordnung und das Gleichgewicht, die durch Muße möglich werden. Noch einmal Clark: »Zivi-
    lisation bedarf eines Quentchens materieller Prosperität – genug, um ein wenig Muße zu ermöglichen. Doch mehr noch bedarf sie des
    Vertrauens – des Vertrauens in die Gesellschaft, in der man lebt, des 56
    Glaubens an ihre Philosophie und ihre Gesetze, des Vertrauens in die eigenen geistigen Kräfte... Schwung, Energie, Vitalität: Alle großen Zivilisationen – oder zivilisierenden Epochen – hatten gewaltige
    Energie im Rücken. Manche glauben, daß Feinsinnigkeiten, gute
    Konversation und solche Dinge Zivilisation ausmachen. Die können
    zwar zu den angenehmen Ergebnissen von Zivilisation gehören, doch sie

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