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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almut Irmscher
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nicht begeistert, aber alternativlos. Deshalb griff ich zu. Zeit ist schließlich Geld!
    Ich hatte in einer billigen Pension Unterkunft gefunden. In Anbetracht meiner ungewissen beruflichen Zukunft war mir aber auch das geringe Salär, das die stets schlecht gelaunte Wirtin verlangte, noch zu viel. Die kommenden Wochen würden nicht nur nichts einbringen, sie würden im Gegenteil nur Geld kosten. Vor dem Kursbeginn lag noch ein Wochenende, also begab ich mich auf Wohnungssuche.
    Ich endete in einem kleinen, möblierten Dachzimmer in Lokstedt. Es war wirklich nicht unbedingt hübsch eingerichtet sondern eher schäbig, das war wohl der Sechziger-Jahre-Schrott der Oma, die kürzlich ins Gras gebissen hatte. Aber es war ausgesprochen billig, und das allein zählte. Es gab nur eine primitive Kochplatte, der Kühlschrank stand auf dem Flur und wurde mit einer im Nebenzimmer wohnenden Studentin geteilt, genau wie das Bad.
    Meine neue Nachbarin war – vorsichtig formuliert – eine herbe Schönheit. Ihr lieblos zurechtgestutztes, blondes Haar stand wie vertrocknetes Gras in alle Richtungen von ihrem auffallend großen Kopf ab. Sie war leicht übergewichtig, schlecht gekleidet und auf einem Auge blind. Ihr Bruder hatte es mit einem unvorsichtig abgeschossenen Pfeil erwischt, als sie fünf Jahre und er unwesentlich älter gewesen war, erzählte sie später, nachdem sie ein wenig aufgetaut war. Ziemlich dumm gelaufen.
    Sie war nämlich schrecklich reserviert. Erst hatte ich das für allgemeine Misanthropie gehalten, aber nach dem Genuss von einer halben Flasche Rum taute sie ein wenig auf und geriet ins Plaudern. Sie hieß Heidi, obwohl überhaupt nichts Niedliches an ihr war, das diesen Namen gerechtfertigt hätte, und sie studierte BWL. Besonders sympathisch war sie mir nicht. Aber was sollte ich machen. Sie war nun einmal da.
    *
    Den Sonntag verbrachte ich im Hagenbeck-Zoo. Was mich gerade dort hingetrieben hatte, wusste ich nicht genau. Natürlich wollte ich mein stickiges Zimmer und die Nähe meiner Rum saufenden Nachbarin verlassen, aber für eingesperrte Tiere hatte ich mich bislang eigentlich nie begeistern können.
    In diesem Zoo konnte man Futtertüten erwerben, deren Inhalt dann ausgewählten Tieren dargereicht werden durfte. Ich sah dabei zu, wie ein kleines Mädchen, hin- und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, vorsichtig einem Elefanten einen Apfel hinstreckte. Eine tolle Idee war das. Das Tierfutter erst an die Zoobesucher verkaufen, dann verfüttern lassen. Geld verdient und Arbeit gespart. Ich war voll der Anerkennung.
    Bei den Giraffen gab es ein Gerüst, auf dessen Podest man klettern konnte, um den graziösen Riesen Auge in Auge gegenüberzustehen. Auch durfte man sie mit blattreichen Zweigen zum Naschen anlocken.
    Ich sah in ein dunkles, sanftmütiges Auge, das wie das samtene Tor zu einer ruhigen, tiefen Seele war. Die gleichen Augen hatten die Brachiosaurier in den Prähistorien-Reißern. Die Programmierer von computergenerierten Filmmonstern schienen sich in Zoos inspirieren zu lassen. Oder steckten in Giraffen die Seelen der Brachiosaurier? Gefangen im Giraffenkörper, wie Libellen in Wasserwaagen? Ich dachte sofort an den blöden Mario, und weil es bei dem besser nicht so viel zu denken gab, spann ich meine Gedanken fort und dachte ich an Gianni. Wie hatte mir nur so etwas passieren können?
    *
    Pünktlich um neun Uhr begann am Dienstag der Kursus. Außer mir gab es auch sonst nur Frauen, aber es hieß ja auch „Schwesternhelferin“, keineswegs „Brüderhelfer“. In gewissen Berufszweigen steckte die Emanzipation eben noch immer in den Kinderschuhen.
    Es waren vierzehn Frauen, und ich war mit Abstand die jüngste. Die meisten waren zwischen dreißig und vierzig, hatten Kinder im Schulalter und suchten einen Nebenverdienst beim häuslichen Pflegedienst oder im Heim. Sie waren allesamt ziemlich bieder, jedenfalls nicht die Typen, mit denen ich mich so unbedingt freiwillig umgeben hätte. Drei bereits ältere Frauen machten den Kurs aus persönlichen Gründen, weil sie zuhause pflegebedürftige Angehörige hatten. Eine von ihnen erzählte tränenreich von ihrem geliebten Mann, der nach einer rasch fortschreitenden Parkinson’schen Erkrankung an den Rollstuhl gefesselt war. Er sei so ein aktiver, unternehmungslustiger Mensch gewesen, und jetzt das. Eine andere klagte über ihren bettlägerigen Vater, mehr und mehr zerfressen von Zuckerkrankheit und Dekubitus, den sie weitgehend alleine

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