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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almut Irmscher
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durch die nächtlichen Alpen. Es regnete. Die Dunkelheit und die Nässe passten wunderbar zu meiner Grabesstimmung. Ich fühlte mich völlig verloren.
    Der SPIEGEL brachte das übliche politische Gezerre, einen langweiligen Artikel über Waffengeschäfte mit Saudi Arabien und einen längeren Bericht über die Zustände in deutschen Altenheimen. Es gab immer zu wenig Personal, entsprechend waren die Pfleger überlastet und die Alten unterversorgt. Die Alterspyramide der Republik verhieß noch dazu nichts Gutes. Es gab ja schon jetzt zu viele Alte, in den kommenden Jahrzehnten würde sich das Problem auf dramatische Art verschärfen. Denn die geburtenstarken Jahrgänge würden eines nicht mehr allzu fernen Tages bewaffnet mit Gehstöcken und Rollatoren Einzug in die Abstellkammern für Greise halten.
    Ich kicherte bei der Vorstellung leise vor mich hin. Das waren diese Leute, die jetzt noch zwischen Mitte Vierzig und vielleicht gerade mal Sechzig waren, und die meinten, die ewige Jugend für sich gepachtet zu haben, nur weil ihre Generation Pop, Rock und Protest hervorgebracht hatte. Die würden dann spätestens in zwanzig bis dreißig Jahren mit Glitzerklamotten oder im Hippie-Look im Altenheim sitzen und mit den schwerfällig gewordenen Füßen und arthritischen Gelenken zum Takt von Bruce Springsteen, Status Quo, Joe Cocker, den Rolling Stones, Sex Pistols - oder wie die Grufties alle hießen - wippen. Alternativ auch gerne zu aalglattem Allerwelts-Plastikpop, Abba, Silver Convention, Culture Club oder so ähnlich. Ich kannte mich da nicht so aus. Neue Deutsche Welle, Da Da Da! Nur eines war sicher: Es würde geradezu lächerlich sein.
    Müde legte ich den SPIEGEL beiseite und schloss die Augen. Das monotone Rattern des Zuges mischte sich mit den dezenten Geräuschen der Mitreisenden und dem Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben zu einem dumpfen Geräuscheinheitsbrei. Darüber legten sich in meinen Gedanken undefinierte Worte wie Chimären aus dem dunklen Hinterhalt des Unterbewussten.
    Plötzlich schreckte ich auf. Glasklar stand die Botschaft vor mir, die sie mir zugewispert hatten: zu wenig Personal. Und immer mehr Alte. Da lag es doch auf der Hand! Ich fuhr nach Hamburg, um einen krisenfesten Job im Altenheim anzunehmen. Sie warteten ja quasi schon auf mich!
    *
    Es war natürlich blauäugig zu denken, dass sich alles, so wie ich mir es vorgestellt hatte, reibungslos umsetzen lassen würde. Die Leiterin der Pflegeeinrichtung im feinen Ortsteil Blankenese, in deren Büro ich voller Selbstvertrauen und guter Dinge eingetreten war, sorgte für Ernüchterung. Sie war eine Frau in den Fünfzigern, die zahlreichen kleinen Fältchen um ihren Mund verliehen ihr einen strengen Ausdruck. Vielleicht lag es auch an dem kühlen Blick, mit dem sie mich aus wässrigen blauen Augen abschätzend betrachtete. Ihr braunes Haar war in Wellen nach hinten frisiert und gut mit Haarspray fixiert. Der graue Ansatz verriet den Farbbetrug, die dicke Altdamen-Perlenkette den gesetzten Wohlstand.
    Sicher, sie benötigten ständig Hilfskräfte, räumte sie mit gelangweiltem Unterton ein. Aber vorab müsse ich eine Qualifikation nachweisen. Das müsse ich verstehen. Schließlich handle es sich ja um eine verantwortungsvolle Aufgabe.
    Ich könne mich um eine Ausbildung zur Altenpflegerin bewerben, das sei ein solider Beruf. In diesem Jahr sei da aber wohl kaum noch etwas zu machen. Nächstes Jahr vielleicht.
    Als sie die aufsteigende Ernüchterung in meinen Augen entdeckte, setzte sie ein schmales Lächeln auf und ergänzte tröstend, sie können natürlich mal im Personalbüro nachfragen, ob vielleicht eine Putzkraft oder eine Küchenhilfe benötigt würde. Diese Low-Budget-Jobs hätten ja immer eine hohe Fluktuationsrate.
    Ich wollte schon gehen, da teilte sie mir mit, dass es durchaus eine Einstellungsmöglichkeit gäbe, wenn ich zuvor einen Schwesternhelferinnenlehrgang absolvieren würde. Das dauerte nicht allzu lange und würde mir die Türen der Altenpflegeheime öffnen. Na bitte. Es ging doch.
    *
    Ich rief bei den Maltesern an. Da gab es verschiedene Kursangebote, die zur Schwesternhelferinnenprüfung vorbereiteten, informierte mich die freundliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Berufsbegleitende Abendkurse, nicht zu zeitintensive Kurse über mehrere Monate hinweg oder eben einen Crashkurs. Dreieinhalb Wochen ganztägig mit integriertem Praktikum, fünfhundert Euro Kursgebühr. Start am nächsten Dienstag. Ich war

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