Wie die Libelle in der Wasserwaage
versorgte. Es waren keine erbaulichen Geschichten. Es war, als sei ich unvermittelt in einer anderen Welt gelandet, einer düstergrauen, die ich mir eigentlich gar nicht hatte ansehen wollen.
Die Frauen waren wirklich sehr durchschnittlich und nicht besonders interessant, aber motiviert und freundlich. Während wir Erste-Hilfe-Übungen machten, lernten, rückenschonend zu arbeiten oder Betten frisch zu beziehen, in denen währenddessen eine bewegungsunfähige Person lag, die durch eine von uns simuliert wurde, hatten wir mitunter recht viel Spaß. Auch stinknormale Vorstadttussis können durchaus Humor haben, lernte ich. Die Seminartage vergingen jedenfalls wie im Flug.
Anschließend musste ein Praktikum absolviert werden. Ich entschied mich für das Angebot eines Krankenhauses. Altenheime würde ich ja noch bis zum Abwinken kennenlernen, wenn meine Laufbahn wie geplant verliefe. Nach allem, was meine Kursgenossinnen berichtet hatten, war mir außerdem danach, zu gucken, was der Aufgabenbereich sonst noch zu bieten hatte. Es konnte ja schwerlich alles mies sein. Allem wohnt doch letzlich ein positiver Funke inne.
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Obwohl es nicht mal ein übermäßig großes Krankenhaus war, verlor ich mich in seinen endlosen Gängen. Das Erste, was ich lernte, war, dass man als Krankenschwester stets auf quietschenden Gummisohlen überraschen Schrittes durch diese Gänge zu eilen hatte und damit Hinz und Kunz vermittelte, wie gestresst und engagiert man war. Allerdings gab es auch Unmengen von Arbeit. Betten machen, Kranke waschen, Essen austeilen, gebrauchte Betten in die Sterilisationsabteilung schieben, frische heraufholen, gehunfähige Patienten zum Röntgen bringen, Urinflaschen und Bettpfannen reichen und leeren, Material auffüllen, alte Männer füttern. Kaum Zeit zum Luftholen. Kein Wunder, dass die meisten Vollzeitschwestern, die ich in diesem Krankenhaus kennenlernte, von Kaffee und Nikotin abhängig waren. Sie schütteten den Kaffee literweise in sich hinein und verschwanden bei jeder Gelegenheit in der Raucherecke. Was für ein ätzender Job. Da kriegt man doch spätestens mit fünfzig einen Herzinfarkt!
Es gab ein Zimmer mit zwei alten Männern, in dem ich der Fütterungstätigkeit dreimal täglich nachzugehen hatte. Beide konnten nämlich nicht mehr ohne Hilfe essen, geschweige denn ihre Brote selbst schmieren. Der eine von beiden war echt ein Ekel, ein grantiger Alzheimerpatient, der nicht essen, sondern nur Gift speien wollte. Dem stopfte ich sein Futter irgendwie rein. Der andere war schon weit über Neunzig. Er hatte keine Angehörigen und sprach fast nie ein Wort. Es ging ihm nicht gut, er lag im Bett und dämmerte vor sich hin, Tag aus, Tag ein. Ich nahm mir viel Zeit, ihn zu füttern, denn der Alte tat mir ehrlich leid. Trotzdem war es vollkommen falsch, ihm das Essen einzutrichtern, aber dieser unmenschliche Irrtum wurde mir erst bewusst, als es zu spät war. Die Verweigerung der Nahrungsaufnahme ist eines Tages vielleicht der letzte Ausweg, den ein Mensch noch hat. Was für ein grandioser Albtraum!
Der alte Mann war schon mehrfach operiert worden und eine weitere OP am Oberschenkelhalsknochen stand kurz bevor. Die jungen Assistenzärzte mussten schließlich an irgendwem üben. Ich weiß schon, dass ich in meinem Leben ein paar echt fiese Sachen gemacht hatte. Aber mal im Ernst, das hier war um Welten schlimmer. Fand ich.
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Trotz allem hatte ich das Krankenhaus, die ständige Geschäftigkeit und die endlosen Widersprüche gemocht. Ich fand es schade, als meine zwei Praktikumswochen vorüber waren. Hier wurde am Menschen gearbeitet mit dem Ziel, Leben zu erhalten, die Leute zu heilen und hinauszusenden in die Welt, neues Spiel, neues Glück. Von den alten Männern jetzt natürlich einmal abgesehen.
Meine Schwesternhelferinnenprüfung war ein Klacks. Bewaffnet mit dem damit erlangten Wisch trat ich ein zweites Mal vor die sprayhaarige Scheinbrünette in Bankenese. Ich bekam einen Job als Hilfspflegerin, was sie mit einem süffisanten Lächeln und einer Bemerkung über Lernen und Bildung garnierte, die von meiner Großmutter hätte stammen können.
Die Bezahlung war deutlich bescheidener, als ich mir das vorgestellt hatte. Aber ich wischte die aufkeimende Frustration einfach weg. Hauptsache, ich hatte etwas. Alles Weitere würde sich schon finden. Auch die Scheinbrünette hatte sicherlich mal klein angefangen, bevor sie zu ihrer schicken Perlenkette gekommen war. Und heute hatte sie übrigens ein
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