Wie die Libelle in der Wasserwaage
Ich war von mächtigen Geistern mit der Exekutive ihrer Wünsche beauftragt, eigentlich irgendwie religiös, größer jedenfalls als alles, was der erbärmliche menschliche Verstand begreifen kann. Eine fast schon göttliche Mission.
Einstiche ließen sich nachweisen, meinte Tafari. Sicherheitshalber sollten wir also eine unauffällige, schwer zugängliche Stelle zwischen den Zehen für unsere Injektion nutzen. Kein Mensch würde dort einen Einstich finden, denn niemand würde auf die Idee kommen, an dieser Stelle zu suchen. Zumal der Tod ja ganz natürlich aussehen würde.
Wir handelten schnell, zielstrebig und sanft. Frau Kremer schlief. Sie merkte nichts und glitt friedlich vom Schlaf weiter in die ewige Ruhe. Ich fühlte mich wie die Erfüllungsgehilfin des Schicksals. Eine kampfgerüstete Walküre im Sturm, mit erhobener Lanze dem Unbill trotzend, unbeugsam und unbeirrt auf dem Wege ihrer Vorsehung. Machtvoll, stark und gut.
*
Niemand schöpfte Verdacht. Im Gegenteil, man hatte ja täglich mit dem Dahinscheiden der Frau Kremer gerechnet und war im Grunde erleichtert über ihre Erlösung. Unsere scheinbrünette Heimleiterin erschien persönlich und verstreute einige salbungsvolle Worte, als eine entfernte Verwandte von Frau Kremer kam, um die Formaltäten abzuwickeln.
Frau Kremers Zimmer wurde ausgeräumt, gereinigt, oberflächlich mit einem neuen Anstrich versehen und schon am übernächsten Tag zog eine neue Bewohnerin ein. Die Warteliste war schließlich lang.
Es fiel auch niemandem auf, dass der Insulinbestand sich verringert hatte. Pfleger aus dem ganzen Heim griffen hierauf zu, und dem allgemeinen Schlendrian war es zu verdanken, dass nicht ordentlich darüber Buch geführt wurde, wie viele Einheiten welches Patienten jeweils entnommen worden waren.
Wir hatten den perfekten Mord begangen, von dem vor Jahrzehnten der englische Krankenpfleger Kenneth Barlow geschwärmt hatte. Das hatte ich in der Wikipedia gelesen, als ich mich sicherheitshalber über die Wirkung von Insulin informierte. Der Typ hatte sich aber damals zu weit aus dem Fenster gelehnt, als er, kurz bevor seine noch relativ junge Frau plötzlich und unerwartet starb, in einem Vortrag vor Kollegen davon schwärmte, dass Insulin vom Körper absorbiert werde und eine künstlich zugeführte tödliche Dosis daher im Körper des Toten nicht mehr nachweisbar war. Ein Team von Wissenschaftlern legte sich ins Zeug, um ihm den Mord an seiner Frau nachzuweisen, was schließlich gelang. Zwar war das Insulin tatsächlich nicht nachweisbar, aber es fanden sich andere Indizien. So ein Schwachkopf!
Das war 1957, in einer völlig anderen Welt und anderen Zeit, lange vor CSI. Wer weiß, welche Mittel zum Nachweis eines Todes durch Insulin es heutzutage gab? Doch so lange niemand Verdacht schöpfen würde, käme auch keiner auf die Idee, etwas sei nicht mit rechten Dingen zugegangen. Und wo kein Kläger, da kein Richter , das wusste schon meine Großmutter.
Außerdem hatten wir keinen Mord begangen, sondern die arme Frau von ihren Leiden erlöst. Ein Mord setzt niedere Beweggründe voraus, und die hatten wir ja nun wirklich nicht gehabt, ganz im Gegenteil. Wir hatten völlig selbstlos zum Wohle von Frau Kremer gehandelt. War so etwas überhaupt strafbar?
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Irgendwann im Juli erhielt ich über meinen alten Yahoo-Account eine E-Mail von Mario. Mario – was für ein Spuk aus längst vergangener Zeit, so antiquiert wie Yahoo! Ich hatte ihn längst vergessen und war davon ausgegangen, dass es ihm ebenso ergangen war. Mit uns war es ja nun wirklich nicht gut gelaufen.
Er schrieb, dass er ab September wieder auf Gran Canaria sein würde. Sein italienischer Reiseveranstalter suche noch Unterstützung, und er könne da bestimmt was für mich machen. Ich spreche ja schließlich auch Italienisch, und mit Animation kenne ich mich hervorragend aus, wie er ja wisse.
Seine Anzüglichkeiten hätte er sich auch sparen können, der Knallkopf. Zurück in ein altes Schema, das schon einmal nicht funktioniert hatte? Es gibt Leute, die bewegen sich niemals von der Stelle, denen fällt nichts Neues ein, sie entwickeln sich nicht weiter. Nein, aber ohne mich. Entsprechend brüskiert antwortete ich ihm. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein?
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Die Fußballweltmeisterschaft war zu Ende gegangen, die mit ihr schwingende Euphorie war ernüchtert dem Alltäglichen gewichen. Der Sommer wandelte sich zum Herbst. Unser Dienst im Heim verlief im gewohnten Trott.
Eine der alten
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