Wie die Libelle in der Wasserwaage
wild und unbeherrscht, man müsse ihn stets besänftigen und bei Laune halten. In seiner Heimat geschehe das durch Kaffeeopfer, Gaben von Weihwasser und aufgestellte Kreuze. Ich erschauderte bei dieser spirituell verzwirbelten Geistergeschichte und musste unwillkürlich an Vampire denken.
Der kranke Mensch, so fuhr er fort, sei beherrscht von seinem der Kontrolle entglittenen Zar . Je kranker der Mensch sei, desto energischer habe der Zar ihn in seinem hypnotischen Griff. Sei der Mensch dem Tode geweiht und könne trotzdem nicht sterben, so liege das am Zar , der ihn wütend im irdischen Leben halte, da er nicht beizeiten besänftigt worden war. Denn so lange der Zar sich nicht mit seinem Menschen in Ruhe vereine, gebe es keinen Tod.
Es sei also unsere Aufgabe, in Kontakt mit dem Zar der Frau Kremer zu treten, herauszufinden, was erforderlich sei, um den Zar zufrieden zu stellen und ihn zu befragen, wann der Zeitpunkt gekommen sei, an dem Frau Kremer sterben dürfe, weil der Zar dies endlich gestatte.
Wir müssten ein heiliges Feuer entfachen, um in Verbindung mit dem Zar zu treten. Und der Zeitpunkt dafür sei jetzt!
*
Seine Worte hatten mich umgarnt und bezirzt, die Fremdartigkeit dessen, was er mir erläutert hatte, sprengte die Logik meines Denkens so umfassend, dass ich glaube, mein Verstand setzte einfach aus. Das war doch auch wirklich eine irre Geschichte, die er mir da verklickert hatte. Welcher normale Verstand hätte das ganz subjektiv erfassen können? Das war eine Story für Esoteriker, und zu denen gehörte ich eher nicht. Wenn man Dinge nicht versteht, gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann mit dem Intellekt rangehen, Informationen sammeln und dann abwägen. Man kann sich auch einfach zurückziehen. Oder man lässt die Dinge geschehen. Ich entschied mich für Letzteres und ließ mich einfach auf die Sache ein.
Tafari entfachte die Kohlenglut erneut und streute merkwürdige Pulver hinein, meine Sinne schwanden und ich weiß wirklich nicht mehr, was dann geschah.
Später, als ich langsam wieder klarer wurde, berichtete Tafari vom spürbaren Kontakt mit dem Zar der alten Frau Kremer. Der Zar habe sich schließlich, nach langen Beschwörungen, sanft und friedfertig gezeigt und sei nun in tiefem Frieden mit Frau Kremer vereint. Alles sei gut.
Dann wird sie jetzt endlich friedlich sterben, meinte ich erleichtert, doch Tafari schüttelte traurig den Kopf. Nein, meinte er. So einfach sei das nicht. Der Zar sei einverstanden und der Weg geebnet, doch in Frau Kremer regten sich noch die Widerstände der Anhaftung an das Leben und der Furcht vor dem Tode, die ein friedvolles Hingleiten in den Abgrund der Ewigkeit blockierten.
Doch habe der Zar ihm klare Signale gegeben, dass er, Tafari, und ich, Sibylle, dazu bestimmt seien, diese Widerstände auszulöschen. Ich weiß nicht. Ich war so eingenommen von der Exotik des Augenblicks, dass ich das alles für bare Münze nahm.
Danach wurde er sachlicher. Frau Kremer müsse sterben, und das sei auch gut so, weil sie erlöst werden müsse. Doch könne sie diesen Weg nicht alleine beschreiten, also sei es an uns, ihr zu helfen. Und er wisse auch, wie.
Im Heim gab es ein Medikamentenzimmer, in dessen Kühlschrank unter anderem auch stets gute Vorräte an Insulin vorrätig waren. Denn viele Bewohner litten unter Altersdiabetes. Insulin aber, so wusste Tafari, tötet schnell, sicher und spurlos. Es bewirke, hoch genug dosiert, eine schwere Unterzuckerung, einen sogenannten hypoglykämischen Schock, der unabdingbar zum Tode führte. Dabei werde der Blutzucker so weit gesenkt, dass nicht mehr genügend Nährstoffe im Blut enthalten seien, um die Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Die Muskeln könnten sich nicht mehr zusammenziehen, weil sie keine Glukose mehr erhielten, also könne auch der Herzmuskel nicht mehr schlagen, die Atmung stünde still. Ganz einfach.
Frau Kremers Erlösung lag also im Insulin. Wir müssten ihr das nur injizieren, und schon sei alles gut. Ganz einfach. Und der Zar war einverstanden! Logisch, oder?
*
War das alles verrückt? Ich weiß es nicht. Aber es schien mir schlüssig und konsequent. Also besorgten wir eine ausreichende Dosis Insulin. Ich fühlte mich dabei wie damals, als ich Kosmetikartikel geklaut hatte. Ein schlechtes Gefühl und die Angst vor Entdeckung brodelten in meinen Adern, aber ich wies sie energisch in ihre Schranken und tat, was ich als richtig erachtete. Ich hatte ja einen höheren Plan zu erfüllen, nicht wahr?
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