Wie die Libelle in der Wasserwaage
Faszination betrachtete ich all die Farben und Formen, diese schier unendliche Vielfalt. Wie war das möglich, woher kamen diese Dinge? Wie entstanden Steine überhaupt? Steine waren für mich immer unbelebte Dinger gewesen, die eben da waren. Ich hatte vorher nie darüber nachgedacht. Diese prachtvolle Fülle, dieser Reichtum, diese Schönheit, war das nicht Ursprung und Wurzel von allem? Das Fundament des Daseins? Ich ging langsam durch die Reihen und schaute sie alle ganz genau an. Jeden einzelnen. Geheimnisvoll glitzernder Hämatit, faseriger Asbest, tiefschwarzer Obsidian, eckig kristallisierter Dolomit, blättriger Chalkosin, Pyrophyllit, der aussah wie die zauberhafte Blume aus einer anderen Welt. Mir begegneten die exotischsten Namen und alle erdenklichen Farben und Formen. Es war, als wollten sie mir Geschichten erzählen, spannend und neu, doch ich verstand ihre Sprache nicht. Aber der Bann, in den sie mich zogen, fesselte mich.
Und wie eine Eingebung, so eine Intuition, wie man sie nur selten im Leben hat, von der man aber sofort weiß, dass sie das einzig Richtige ist, wusste ich, ich würde Geologie studieren. Steine. Ich wollte einfach alles über sie wissen. Es gibt Möglichkeiten für mich, aber unter welchem Stein liegen sie? So oder ähnlich hatte sich Kafka mal in einem seiner Tagebücher ausgedrückt, das wusste ich, weil wir uns im Deutschunterricht mit diesem Schlafrock-Wortakrobaten auseinandergesetzt hatten. Und ich wusste auch, dass es an der Zeit war, meinen eigenen Stein zu finden.
*
Am Abend besuchte ich eine Bar. Zwar war es die Bar eines Hotels, eines schicken kleinen Design-Hotels in einer Nebenstraße es Kurfürstendamms, doch war sie ganz anders als die gediegen konservativen Hotelbars, die ich in Köln besucht hatte. Das Licht war schummrig und mit Rot- und Orangetönen unterlegt, ein kühler Ethanol-Ofen heuchelte Behaglichkeit und ein betont cooler DJ legte hippe Musik auf.
Hier waren ganz andere Leute unterwegs, dunkel gekleidete Existenzialistentypen und Frauen in minimalistischem Retrolook. Mit meinem Armani-Outfit wirkte ich in diesem Umfeld fast ein bisschen zu brav.
Trotzdem sprach mich ein dunkelhaariger Typ an. In der allgemeinen Düsternis der Bar wirkte er, der schwarz gekleidet war und einen schattigen Dreitagebart hatte, fast obskur. Das Mysterium der Finsternis reizte mich sehr. Willig gab ich mich dem Gespräch mit ihm hin.
Er erzählte mir, dass er Chemie studiere, im neunten Semester, demnächst sei er fertig. Er hätte gerade für ein halbes Jahr einen Studienplatztausch gemacht, das Sommersemester verbrächte er in Berlin, eigentlich studiere er nämlich in Köln. Aber Berlin sei ja viel angesagter. Er habe hier schon in kurzer Zeit so tolle Sachen gelernt. Nun ja, davon werde er letztendlich dann im biederen, provinziellen Köln auch profitieren. Die hätten ja keine Ahnung, die Kölner, fügte er geheimnisvoll hinzu.
Köln. Wie klein die Welt doch ist. Ich erzählte ihm so teilnahmslos und gelangweilt wie möglich, dass ich auch aus Köln käme, was für ein Zufall! Ich hätte da bisher bei einem Unternehmen gearbeitet, aber ab dem kommenden Wintersemester würde ich Geologie studieren. Er war begeistert. Dann würden wir uns ja dauernd sehen! Denn ich hätte doch ganz bestimmt Chemie im Nebenfach, oder?
Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht, und es war mir auch im Moment noch ziemlich wurscht. Aber der Typ gefiel mir. Er hieß eigentlich Johannes, wie spießig, deshalb nannten ihn alle nur Joe, ließ er mich wissen. Dann spendierte er mir eine exotische Rosen-Margherita und nahm mich anschießend mit auf seine Bude.
Dort, im Schummerlicht, öffnete er erst einmal eine Flasche Wein, schenkte uns ein Glas voll ein und holte dann ein Pfeifchen aus einer Schatulle. Er füllte es mit weißen Kristallen und zündete es an. Baby, gurrte er mit verführerischer Stimme, nimm einen Schluck Wein und ziehe an diesem Zauberding, was danach kommt, wird das Beste sein, was du je erlebt hast. Ich war schon von den Worten berauscht, wozu noch Drogen? Doch das Tor der Verlockung stand schon weit offen vor mir, ich konnte nicht widerstehen. Ich sah ihn voller Verlangen an und tat, was er wollte. Die Betörung riss mich mit sich fort.
Was danach kam war so phänomenal, dass mir die Worte fehlen, es zu beschreiben. Es war, als werde die Welt viel schneller, viel bunter, pulsierend um mich herum, Gerüche wie duftendes Feuer, ein Kribbeln auf der Haut von tausend und
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