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Wie die Libelle in der Wasserwaage

Wie die Libelle in der Wasserwaage

Titel: Wie die Libelle in der Wasserwaage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Almut Irmscher
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wäre, wollte er wissen. Der Kerl war ehrlich betroffen. Wenn er geahnt hätte, dass einige Zwiebeln hatten dran glauben müssen, um mich in diesen rotäugigen Zustand zu versetzen. Ich hatte sie mit Latexhandschuhen bearbeitet, um den Geruch nicht an mich herankommen zu lassen, und danach zur Sicherheit noch dezent Parfum aufgetragen, denn ich hatte die ätherischen Dämpfe sehr nah an meine Augen geführt.
    Theatralisch aufschluchzend nahm ich das Papiertaschentuch entgegen, das er mir reichte, während er sich neben mich setzte. Alles sei ganz fruchtbar, brachte ich stoßweise heraus.
    Die Story, die ich mir ausgedacht hatte, ging kurz zusammengefasst wie folgt: Ein Angehöriger der venezolanischen Botschaft in Berlin hatte auf Anweisung meines Vaters - wie Angehörige in allen anderen venezolanischen Botschaften der Welt - Recherchen über meinen Verbleib angestellt und mich schließlich aufgespürt. Wie auch immer er das vollbracht hatte, diese Leute haben ja Mittel und Wege, die ein normaler Mensch gar nicht zu erahnen vermag. Und statt meinem alten Herrn Meldung zu erstatten, wie es sich gehört hätte, habe er sich an mich gewendet. Dreißigtausend Euro solle sein Schweigen kosten.
    Ich hätte ja zwar noch Geld, nicht nur auf den Konten, die mein Vater gesperrt hatte, sondern auch noch auf einem Auslandskonto auf den British Virgin Islands, sehr diskret bei einer kleinen Bank in Road Town. Aber da müsse ich persönlich hin, um es abzuholen, das sei alles sehr kompliziert, so schnell könne ich das doch nicht beschaffen! Der Typ habe mir nur Zeit bis übermorgen gegeben und verlange, dass ich es ihm selbst in Berlin bei einem konspirativen Treffen aushändigen solle. Ich war geliefert!
    Hoch-Tief-Heinz reagierte wie erwartet, und zwar ohne zu zögern. Alle Achtung, der Mann hatte Klasse. Dreißigtausend gegen ein Leben hinter den von meinem Vater errichteten Gitterstäben, was für eine Frage? Dreißigtausend sind doch kein Geld! Er würde mir das Geld geben, gleich morgen und in bar. Ha! Wenn das alles wäre! Für ihn doch kein Problem! Ich könne ihm das ja irgendwann zurückzahlen. Darüber solle ich mir bloß keine Sorgen machen.
    Ich ärgerte mich. Hätte ich doch fünfzigtausend gesagt!
    *
    Dreißigtausend Euro in bar in den Händen zu halten ist schon ein tolles Gefühl. Auch wenn man weiß, wie schnell sie verpuffen, fängt man erst einmal an, sie auszugeben.
    Natürlich musste ich nun weg. Ich sollte das Lösegeld meiner Freiheit ja in Berlin übergeben. Hoch-Tief-Heinz hatte Sorge, es könne sich um eine Falle handeln, hinter der am Ende mein Vater lauern würde. Doch es gelang mir, ihn zu beruhigen. Schließlich kannte ich ja die Mentalität der Venezolaner, nicht wahr? Das war in Ordnung, aber sicherheitshalber würde ich einen Koffer mitnehmen, ein paar Nächte könnte das Ganze vielleicht doch dauern.
    Also packte ich die guten Klamotten ein und ließ den Billigkram im Gästezimmer. Er fuhr mich sogar zum Bahnhof, das Ticket nach Berlin hatte er online für mich gebucht. Eigentlich hatte ich natürlich nicht nach Berlin fahren wollen, aber wo nun schon mal das Ticket bezahlt war, wieso nicht? Eine hübsche Gelegenheit, die Hauptstadt anzusehen und die neuen Pläne gut zu überdenken. Ein billiges Hotel tat es ja auch. Denn nun musste ich mein Geld natürlich zusammenhalten. Das neue Semester würde ohnehin erst nach der Sommerpause anfangen. Ich hatte also Zeit ohne Ende.
    *
    Berlin gefiel mir auf Anhieb. Die Stadt war wie eine große Baustelle. Durcheinander und im Aufbruch, niemand wusste so genau, wohin. Hier pulsierte das Leben, hier entstand etwas Neues. Auch wenn es nicht unbedingt schön war.
    Ich fand ein erschwingliches Zimmer in einem durchschnittlichen Hotel auf der Königsallee, also sogar zentral. Dann machte ich erst mal das, was alle Touristen tun: Sightseeing. Das KaDeWe mit seiner Plastik-Konsumwelt fand ich ziemlich langweilig, ja, eigentlich abstoßend. Deshalb fuhr ich zum Alexanderplatz und entschied mich spontan, auf den Fernsehturm zu fahren. Das ging aber gar nicht, die Warteschlange war ellenlang, obwohl es irgendein ganz normaler Wochentag im Winter war. Also änderte ich meine Pläne.
    Das Wetter war nicht so toll, daher beschloss ich, ins Museum zu gehen. Am Berliner Dom vorbei ging ich über die Museumsinsel und kaufte eine Eintrittskarte am Pergamonmuseum, die praktischerweise auch gleich den Eintritt für das Alte Museum, in dem sich damals noch die Nofretete

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