Wie die Libelle in der Wasserwaage
Tom holte mich eine Woche lang tagsüber in die Bar und brachte mir das Grundhandwerkszeug einer Barbedienung bei. Er ließ mich stundenlang Tabletts hin und her tragen, auf denen sich verschieden große, mit Wasser gefüllte Gläser befanden. Diese Übungen waren nicht nur mit etlichen Pfützen, sondern auch mit vielen Scherben verbunden. Geriet erst mal ein Glas ins Schwanken, so verlor ich vor Schreck gleich das ganze Tablett. Doch alles im Leben übt sich. Am Ende transportierte ich mein Tablett mühelos über die kompliziertesten Parcours, die er mir aufbaute, kletterte dabei über Stühle, wand mich durch Engpässe, und das alles, ohne das auf meinen Fingerspitzen balancierte Tablett auch nur eines Blickes zu würdigen.
Er erklärte mir die wichtigsten Cocktails, obwohl deren Herstellung nicht meine Aufgabe sein würde. Das machten entweder er persönlich oder einer der anderen beiden Jungs seiner erfahrenen Bar-Crew.
Deshalb verbrachte er mehr Zeit damit, mich in der Funktion der Kasse, dem regelmäßigen Toiletten-Check, der Zwischenreinigung der Tische, vor allem aber der Etikette im Umgang mit den Gästen zu schulen. Er hielt mir ellenlange Vorträge über die verschiedenen Typen, mit denen ich es zu tun haben würde, und das jeweils angemessene Verhalten ihnen gegenüber. Hallo? Ich wollte doch nur einen Job, keine Wissenschaft erlernen! Barologie , die Lehre von der Psychologie der Nacht. Aber ich hörte brav zu. Denn ich kannte Tom inzwischen recht gut, Widerspruch duldete er nicht und sollte ich mein mangelndes Interesse auch nur andeuten, dann wäre mein schöner neuer Job verpufft, bevor er überhaupt angefangen hätte.
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Die Arbeit war meist nicht besonders anstrengend und machte mitunter sogar Spaß. Mich nervte nur die ewig gleiche, monotone Barmusik, die aus den Lautsprechern dudelte und die Tom wohl für besonders hip und cool hielt. Ich fand sie einfach nur nervtötend.
Mein Lohn war zwar nicht üppig, reichte aber leidlich für mein anspruchsloses Leben, zusammen mit den Trinkgeldern und kleinen Schummeleien, wenn ich mich hin und wieder beim Herausgeben von Wechselgeld zu meinen Gunsten irrte. Das passierte mir natürlich nur bei sichtbar angetrunkenen Gästen und wenn Tom in sicherer Entfernung war. Ich bin ja nicht blöd.
Hoch-Tief-Heinz kam öfters in der Bar vorbei und lud mich immer wieder zu gemeinsamen Unternehmungen ein. Zwei- oder dreimal ging ich mit ihm und dem Blackberry Essen, die anderen Male wiegelte ich mit fadenscheinigen Ausreden ab. Ich müsse arbeiten, ich bereite mich auf mein Studium vor, und so weiter. Einmal bot ich ihm hundert Euro als erste Rückzahlung meiner Schulden von selbstverdientem Geld an. Denn ich war natürlich clever genug, mein unschuldiges Image zu wahren. Er lehnte empört ab. Das hätte ja wohl Zeit! Fand ich auch.
Ende April hatte Tafari Urlaub und schlug vor, mich zu besuchen. In mir rotierten die Gedanken, aber es gelang mir, ihn abzuwimmeln. Meiner Mutter gehe es nicht gut, ich können nicht für längere Zeit weg von ihr, und ihn ihr vorstellen könne ich schon gar nicht, weil sie in so einem beklagenswerten Zustand sei, man wisse ja nicht, wie sie reagiere, ob sie sich aufrege, der Arzt habe auch gesagt, sie brauche absolute Ruhe und Schonung. Als erfahrener Krankenpfleger wisse er ja, wie so etwas sei. Nicht wahr?
Das war noch einmal gut gegangen. Wie unsere Beziehung in Zukunft weitergehen sollte, darüber war ich mir allerdings ganz und gar nicht im Klaren. Ich wollte ihn noch nicht loslassen, aber der Rückweg nach Hamburg war für mich ausgeschlossen. Wir würden sehen.
Weil ich nun noch einige Monate Zeit hatte und mit meiner finanziellen Situation recht zufrieden war, entschloss ich mich zu einer weiteren Investition in meine Zukunft: Ich meldete mich bei einer Fahrschule an. Was ist man schließlich heutzutage in unserer asphaltierten Welt ohne Führerschein?
Der Fahrlehrer hatte seinen Ausbilderschein bei der Bundeswehr gemacht und war eine militärisch sture Dumpfbacke. Er hatte null Verständnis dafür, dass die Reizüberflutung der Großstadt einen Fahranfänger hoffnungslos überfordert, deshalb maulte und meckerte er die ganze Zeit vor sich hin. Ich hasste die Fahrstunden. Umso mehr strengte ich mich an. Er konnte mich wohl auch nicht leiden, denn vor der Prüfung vereinbarte er einige Geheimzeichen, mit denen er mir helfen wollte, um sicherzustellen, dass ich bestand. Denn vermutlich wollte er mich schnellstmöglich
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