Wie die Libelle in der Wasserwaage
Anhieb verstanden, Probleme mit Informationsbeschaffung oder Zeitmanagement hatten und begleitete außerdem ab und an die Tagesexkursionen, auf die wir uns im Rahmen des Geomorphologieseminars begaben. Diese Exkursionen, das muss ich zugeben, gehörten zu den absoluten Highlights meines Studiums. Wir hatten unglaublich unbeschwerten Spaß in der Gruppe, und wir erlebten wahnsinnig interessante Sachen. Wir untersuchten Steine, wühlten uns durch Steinbrüche, kletterten in Höhlen herum, kratzten an Gestein am Wegesrand, maßen seine Einfallswinkel und zogen daraus Rückschlüsse auf seinen unterirdischen Verlauf. Das war irrsinnig spannend. Darin konnte ich ganz aufgehen!
Herbert wies uns geduldig in die neue Wissenschaft ein. Wenn man sich auf eine bestimmte Sache spezialisiert, dann entwickelt man einen fachspezifischen Tunnelblick. Ich begann, die Welt nach den gerade am jeweiligen Standort vorkommenden Steinen zu sortieren. Wo immer ich hinkam, wandte sich mein Blick zuerst den Steinen zu. Das übernahm ich von Herbert, der steinorientiert durch die Welt ging. Und Herbert war schließlich ein fachliches Vorbild.
Er war sehr groß, dünn und nachlässig gekleidet. Obwohl er kaum älter als Ende zwanzig war, wurde sein dunkles Haar bereits licht. Herbert war alles Mögliche, aber auf der Skala „Frauentypen“ rangierte er an absolut letzter Stelle. Mir war es schleierhaft, wie irgendeine Frau etwas an diesem Typen finden konnte. Umso verblüffter war ich, als mir nach und nach klar wurde, dass Corinna ihn offensichtlich anhimmelte. Musste die es nötig haben!
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Wir fuhren in die Eifel und besichtigten die Maare. Wir lernten alles über ihre Entstehung und den erloschene Vulkanismus. Wir besuchten die Atta-Höhle im Sauerland und bildeten uns über Kalkstein-Sinter, Stalaktiten und Stalakmiten. Wir besuchten die Buntsandsteinformationen des Spessarts und die Wollsackverwitterung am Granit im Harz. Diese Begegnungen mit den Urgewalten unserer Erdoberfläche waren einfach phantastisch. Phantastisch war für mich aber auch das Gruppenerlebnis. Wir fuhren im Bus zu unseren Exkursionszielen, gut gelaunt und ausgelassen wie ein Kegelklub auf Tour. Es war nicht ungewöhnlich, dass schon morgens bei der Abfahrt eine Weinflasche im Bus zu kreisen begann. Denn was soll’s, das Leben ist schön! Und ein großer, bunter Spaß! Die Exkursionen waren das Beste, was ich bislang erlebt hatte.
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Die dazwischenliegenden Wochen waren weniger erbaulich. Sie wurden geprägt durch langatmige Vorlesungen, trockene Seminare und mühsames Büffeln, was eigentlich so gar nicht mein Ding war. Viermal in der Woche musste ich schon um acht Uhr morgens im Institut sein, das war wirklich unbarmherzig, denn ich hatte ja noch meine Jobs. Bar und Drogen, das hielt mich am Leben! Tom war gar nicht begeistert, dass ich spätestens um eins, wenn der Barbetrieb wochentags ohnehin beendet war, den Heimweg antrat. Die horizontalen Verkostungen, die Cocktail-Experimente, all das musste nun ohne mich stattfinden. Man muss im Leben eben Prioritäten setzen.
Das erklärte ich auch Heinz. Ich musste jetzt arbeiten, um aus meinem Leben etwas zu machen. Dagegen konnte ja nun nicht mal er etwas sagen. Wer weiß, vielleicht würde ich eines Tages seiner Firma als Geowissenschaftlerin noch total von Nutzen sein? Tolle Zukunftsperspektiven, oder? Leider hätte ich deshalb erst mal keine Zeit für ihn.
Tafari vertröstete ich weiterhin mit dem schwächelnden Gesundheitszustand meiner Mutter. Wahrheitsliebend, wie ich war, machte ich zwar Andeutungen, dass ich mich mit Geowissenschaften beschäftige, ging dabei aber nicht näher ins Detail. Von einem Studium erzählte ich ihm nichts. Wohl aber streute ich Andeutungen dahingehend, dass ich mich wehmütig an unsere schöne Zeit in Hamburg erinnere. Ich hielt es für keine schlechte Idee, ihn weiter bei der Stange zu halten. Außerdem war er ja wirklich ein netter Kerl, da gab es nichts.
Der Rosenmontag 2008 fand schon Anfang Februar statt. Ehrlich, das war wirklich furchtbar, denn dieses Mal erlebte ich ihn nicht als Bargast, sondern als Kellnerin. Im Akkord musst ich Bier durch die gnadenlos überfüllte Bar schleppen, dabei grauenhafte Karnevalsmusik und pöbelnde Gelegenheitsspaßmacher erdulden. Etwas Schlimmeres konnte ich mir nicht vorstellen. Köln im Karneval, nein danke. Das war einfach nicht meine Welt.
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Die Wochen zogen dahin, und ja, ich musste zugeben, dass es anstrengend war, Studium und Job
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