Wie die Libelle in der Wasserwaage
Rückblick, versteht man oft gar nicht, worüber man sich überhaupt aufgeregt hat. Wozu also die Sorgen? Ein Kind, na und?
Aber ein Kind alleine aufziehen? Das war schon weniger Na Und? Die Vorstellung erschien mir nicht besonders erheiternd, ohne Job, ohne Zuhause, ohne greifbare Perspektive und noch dazu in einem fremden Land. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass ich mich unter den gegebenen Umständen mit Salvatore würde arrangieren müssen, so miserabel das auch war. Der Zweck heiligt die Mittel . Eine Weisheit meiner Großmutter, ich zitierte sie schon früher.
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Der Typ flippte vor Begeisterung aus. Und hatte nichts Eiligeres zu tun, als umgehend seine gesamte Sippe, allen voran die naseweise Mama, zu informieren. Die Jubelei und Küsserei, das Geschnatter und freudige Geschrei, was durch diese Nachricht ausgelöst wurde, ist nicht in Worte zu fassen. Italiener finden ja nichts großartiger als Kinder. Kein Mensch weiß warum, zumal Italien eine der niedrigsten Geburtenraten in ganz Europa hat. Diese Leute sind voller Widersprüche.
Nun war ich vereinnahmt. Wie die Arme eines Kraken legte sich die Fürsorge der Familie um mich. Von jetzt ab wurde geplant und organisiert, und das, ohne mich groß nach meiner Meinung zu all dem zu befragen.
Neben dem Restaurant lag ein recht hübsches Haus, das einem entfernten Verwandten gehörte und bisher in der Sommersaison als Ferienhaus vermietet worden war. Im Nullkommanichts änderte sich dieser Status und es wurde unser neues Heim. Salvatores Vater kaufte das Haus, innerhalb der Familie natürlich zu einem mehr als fairen Preis. Salvatores Mutter, seine Schwester und die Schwägerin begannen, es einzurichten. Wobei das künftige Kinderzimmer natürlich erste Priorität hatte. Wie die meisten Südländer haben auch die Italiener eine Affinität zu fürchterlichem Kitsch. Weil das Geschlecht des Sprösslings noch unbekannt war, nahmen sie der Einfachheit halber eine Mischung von allem, der Fundus aus abgelegtem Spielzeug der Dorfkinder schien schier unerschöpflich zu sein.
Die Wände wurden mit großäugigen Bambis versehen, Disney-Figuren zierten die schnörkelige Wiege, in der sich wiederum Berge von Spitzendecken türmten, darüber wurde ein Mobile mit Pinocchio-Figuren gehängt, deren lange Nasen beängstigend spitz waren. Sollte es sich in Richtung Schwerkraft bewegen, dann Gnade dem Baby Gott! Regale in den Farben des Regenbogens wurden mit Pokemon-Figuren, grellbunten Plüschtieren und signalfarbenen Plastikautos gefüllt. Die Krönung war eine neongelb gekleidete Puppe, die mit roboterhaften Maschinenbewegungen zu der alten Klamotte „ Barbie Girl “ von den Spice Girls tanzte, was blechern aus ihrem eingebauten Lautsprecher schallte. Es war zum Fürchtenlernen!
Salvatores Vater, sein Bruder und sein Onkel begannen, den Garten nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Sie schnitten und pflanzten, verlegten Steine und stellten ein paar aus Marmorpulver gegossene Nachbildungen antiker Statuen auf. Alle wirbelten geschäftig durcheinander, wie die Ameisen. Salvatore war im Siebten Himmel. Was für eine großartige Familie er doch hatte! Mir wurde schlecht.
Das Damoklesschwert, das die gesamte Familie noch in der ersten Stunde des Bekanntwerdens meines gesegneten Zustandes über mir aufgehängt hatte, trug den Namen Hochzeit . Es war klar, dass ich da nicht drum herumkommen würde. Italiener sind per definitionem katholisch und konservativ. Zwar leben sie im Alltag keineswegs nach strengen religiösen Regeln, aber die vorgeschriebenen Rituale müssen strikt eingehalten werden. Ein Volk der Widersprüche, ich sagte es ja schon.
Die Frage war nicht, ob geheiratet wird, die Frage war, wann geheiratet wird. Es war schon Ende Oktober und die strahlenden Sonnentage, die dieses verwöhnte Fleckchen Erde noch bis in den Herbst hinein mit sommerlicher Süße verwöhnen, wichen mehr und mehr feucht-kühlen Nebeln, die vom Meer herüberwaberten. Eine Hochzeit in der warmen Jahreszeit war natürlich erbaulicher. Aber war es moralisch vertretbar, bis zum Frühjahr zu warten? Mit der Geburt war schließlich womöglich schon Ende Mai zu rechnen. Eine Hochzeit im April hätte somit eine hochschwangere Braut bedeutet. Nein, nein, das ging nicht. Es galt ja auch, die Reputation der Familie innerhalb der Dorfgemeinschaft zu wahren. Also musste zügig gehandelt werden.
Auch in Italien setzt die Eheschließung zunächst einen wirren bürokratischen Akt
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