Wie die Madonna auf den Mond kam
energischen Blick mit dem vorgestreckten Kinn auf, den Irina mir beigebracht hatte. Er funktionierte. Lautlos huschte der Kellner über den blauen Teppichboden davon. Die Karte wies in verschnörkelter Schrift mehrgängige Gerichte aus, die uns reichlich suspekt schienen. Anscheinend kamen in diesem Lokal kulinarische Merkwürdigkeiten auf den Teller, die nicht mit einander, sondern aneinander serviert wurden, wie etwa »Artichock an Vinagrett«, worunter sich Großvater nichts Reelles vorzustellen vermochte. Zudem waren die Preise astronomisch hoch. Auf der letzten Seite jedoch, unter» Reichliches aus dem Schatz der Volksküche«, entdeckten wir, wonach unser Gaumen begehrte. Die Tarife waren zwar immer noch herrschaftlich, bewegten sich aber nicht in schwindelnden Höhen. Wir winkten die Bedienung herbei, und Opa orderte Krautwickel, Schweinskoteletts, Salzkartoffeln und vorab saure Kuttelsuppe. »Alles zweimal. Und nicht zu knapp bemessen.« Der Ober empfahl zu dem Gericht ein gezapftes Bier, was Großvater begeisterte, weil es in unserer Schankstube so gut wie nie ein Gebrautes gab. Ich bestellte Sprudelwasser. Alkohol, so fürchtete ich, würde mich schläfrig machen. Für die bevorstehende Nacht jedoch brauchte ich einen klaren Verstand.
Obschon sich Ilja nach dem Essen die Lippen leckte und ein weiteres Bier verlangte, nörgelte er herum, Kathalina koche besser, aber für die Stadt sei die Mahlzeit durchaus akzeptabel gewesen. Ich hingegen bestand darauf, nie zuvor so vorzüglich diniert zu haben. Als der Kellner die leeren Teller abräumte und fragte, ob die Herren vielleicht noch einen Digestif oder Mokka wünschten, besaß ich endgültig eine Ahnung davon, wie schwer einem gebürtigen Stadtmenschen das grobschlächtige und raue Leben in Baia Luna fallen musste, wo es für alle Getränke nur eine Sorte Gläser gab. Großvater, allmählich auf den Geschmack gekommen, bestellte ein weiteres Helles. Mit der gönnerhaften Einladung »So wie hier wirst du nicht alle Tage bedient. Trink mal was Gutes, Opa« orderte ich für ihn noch einen doppelten Konjaki Napoleon, ohne dass er meine Absicht durchschaute. Ein Tiefschlaf des berauschten Großvaters war mir von Nutzen, um in der Nacht unbemerkt aus dem Hotelzimmer zu schleichen.
Der Konjaki wurde in einem bauchigen Schwenkglas serviert. Ich kannte diese Art von Gläsern. Stefan Stephanescu hatte eines auf der Geburtstagsfeier des jungen Arztes Florin Pauker in der Hand gehalten, als er mit der hoffnungslos verliebten Angela Barbulescu herumpoussierte. Heinrich Hofmann hatte in diesem Moment auf den Auslöser gedrückt. Doch der Beweis, welchen Mann die Frau in dem Sonnenblumenkleid damals küssen wollte, war über einer Kerze in der Wohnstube der Lehrerin zu Asche verbrannt. Aber die Möglichkeit des Beweises war damit nicht aus der Welt. Durch Irina Lupescu hatte ich wieder etwas mehr über Heinrich Hofmann erfahren. Wenn dem Fotografenmeister überhaupt etwas heilig war, dann waren das die Negative in seinem Archiv.
Großvater gähnte. Der Alkohol zeigte Wirkung. Als der Kellner kurz vor neun um die letzte Order bat, reichte Großvater mir die Brieftasche und bat mich mit schwerer Zunge, die Rechnung zu begleichen. Da mir die Sitte eines Trinkgelds unbekannt war, presste sich der Ober nur ein unwirsches »Gute Nacht« ab und verzichtete darauf, uns zum Ausgang zu geleiten.
Wir stiegen die Treppen hinauf zu unserem Zimmer im fünften Stock. Um die seltene Gelegenheit zu nutzen, beschloss Opa, vor der Nachtruhe noch kurz ein heißes Wannenbad zu nehmen. Ich legte mich auf mein Bett. Ich musste ausharren.
Als die Stundenglocke des Paulusdomes zwölfmal schlug, schnürte ich meine Schuhe. Großvater atmete gleichmäßig, schlief tief und fest. Ich steckte den Zimmerschlüssel in die Hosentasche und zog die Tür hinter mir zu. Auf dem Hotelflur glimm te ein Notlicht, auf der Treppe schluckte der Teppichboden meine Schritte. Neben dem Entree kauerte der Nachtportier auf einem Stuhl. Er schlief, das Kinn auf der Brust. Ich stieß gegen die Eingangstür. Es war zugesperrt. Ich schubste den Wächter an.
»Was ist?« Der Mann schnellte hoch. »Draußen ist nichts mehr los. Alles geschlossen.«
»Ich kann nicht schlafen«, sagte ich und hüstelte. »Scheiß - Asthma. Wenn man aus den Bergen kommt, hat man in der Stadt dauernd Ärger mit der Luft. Ich muss mich noch ein wenig müde laufen.«
»Kenn ich«, erwiderte der Nachtpförtner verschlafen. »Ich bin aus
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