Wie die Madonna auf den Mond kam
Petrin.
Glücklicherweise war Ilja, als er den Ärzten der Neurologischen Fachabteilung gegenüberstand, einer der seltenen Momente von Klarheit beschieden. Er zeigte Einsicht, dass er wohl unter einer Krankheit leide, die einen stationären Klinikaufenthalt und ausgiebige Beobachtungen und Untersuchungen erforderlich mache. In sechs Wochen, so wurde vereinbart, könnten wir Großvater wieder abholen.
Als Hermann Schuster dem Ausgang des volksgenossenschaftlichen Hospitals »Gesundheit des Vaterlandes« zustrebte, bat ich ihn um fünf Minuten Aufschub. Ohne seine Zustimmung abzuwarten, flitzte ich die Treppen hinunter und folgte dem Schild »Pathologisches Institut«, bis ich vor die vergilbte Tür mit dem Täfelchen »Dr. med. Paula Petrin, Fachärztin für Innere Medizin« gelangte. Ich klopfte.
»Jaaa!«
Ich trat ein. Die Ärztin schaute von ihrem Schreibtisch auf, auf dem sich ein hoher Aktenberg türmte.
»Was ist? «, fragte sie, ohne dass ich etwas von ihrer früheren Freundlichkeit verspürte.
»Pavel Botev. Aus Baia Luna. Vor drei Jahren waren wir zu dritt hier, als wir nach dem Leichnam unseres toten Priesters gesucht haben. Johannes Baptiste.«
Paulas Gesicht hellte sich auf. »Ja, natürlich. Ich erinnere mich gut an euch. Ich habe euch doch noch zum alten Patrascu geschickt.«
»Bei dem waren wir. Aber der wusste auch nichts über den Verbleib der Leiche.«
»Gut, dass du noch mal reinschaust. Leider stehe ich momentan ziemlich unter Druck. In einer halben Stunde muss ein wichtiger Bericht auf dem Tisch unseres Direktors liegen. Euer Priester war doch Katholik, kein Reformierter?«
»Genau.«
»Soweit ich informiert bin, werden katholische Priester nicht in ihren Gemeinden, sondern auf dem bischöflichen Friedhof beerdigt. Ich war lange nicht mehr im Paulusdom, aber es gibt dort eine Domschatzkammer, eine Art Museum. Von da aus führt ein Gang in einen Innenhof, wo man Gräber und Gedenksteine für Priester und Bischöfe angelegt hat. Vielleicht liegt euer Pfarrer dort. Tut mir leid, aber ich muss jetzt weiterarbeiten.«
»Besten Dank für den Hinweis.« Ich drehte mich zur Tür. »Was macht eigentlich der alte Kommissar?«
»Wisst ihr das nicht? Er ist tot. Der gute Patrascu hat seine Pensionierung doch nur zwei, drei Wochen genießen können.« »Woran ist er gestorben?«
»Sein Herz spielte nicht mehr mit. Er hatte wohl auch zu viele Carpati geraucht.«
»Haben Sie seine Leiche untersucht?« »Nein. Weshalb sollte ich?«
Hermann Schuster war sofort bereit, einen Abstecher zum Paulusdom zu machen, wo wir den Friedhof so vorfanden, wie ihn Paula Petrin beschrieben hatte. Die ältesten Grabsteine datierten bis ins achtzehnte Jahrhundert zurück. Das jüngste Grab war vergleichsweise neu. Das Erdreich hatte sich abgesenkt, und die Umrandung war mit Bruchsteinen eingefasst. Auf einem schlichten Stein war eingemeißelt: »Joseph Augustin Metzler 16.3.1872 - 12.11.1957.«
»Seltsam«, sagte ich, »auf fast allen Grabsteinen steht der Geburts- und der Sterbeort. Bei Pfarrer Metzler noch nicht einmal der Name der Gemeinde, in der er tätig war.« »Komisch«, meinte auch Schuster. »Dieser Metzler ist etwa zur gleichen Zeit gestorben wie unser Baptiste.«
Als wir den Friedhof verließen, schwand die Hoffnung, eines Tages werde sich der Verbleib des Leichnams von Pater Johannes noch klären, gegen null.
Vierzehn Tage später fuhr ein weißer Rotkreuzwagen in Baia Luna vor. Nicht, dass Ilja Botev früher als erwartet aus dem Hospital entlassen wurde, sorgte im Dorf für Gesprächsstoff, sondern der Umstand, dass die staatliche Handelsorganisation anscheinend vorbildlich für ihre Genossenschaftler sorgte und ihnen sogar einen kostenlosen Krankentransport zur Verfügung stellte.
Großvater stieg aus, lachte und winkte. »Ich bin wieder gesund! «, rief er.
Kathalina, die Freude nur selten mit sinnlicher Zuwendung ausdrückte, fiel ihrem Schwiegervater um den Hals und küsste ihn ab. Ilja quoll über vor Lob auf die Kompetenz der Kronauburger Ärzte, wobei es ihm ein Nervenarzt, dessen Name ihm entfallen war, besonders angetan hatte. Die ersten drei, vier Tage nach seiner Ankunft im Spital, berichtete Großvater, habe er sich völlig gesund gefühlt, und keiner der behandelnden Mediziner habe irgendeine Abnormität feststellen können, ja, er habe bei einem Gespräch auf den Klinikfluren sogar das Wort »Simulant« vernommen. Dann jedoch habe er einen merkwürdigen Anfall gehabt, an den er
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