Wie die Madonna auf den Mond kam
sich nicht mehr erinnern könne, den die Ärzte jedoch später stets als »Grande Malle« bezeichneten. Opa erzählte, er habe morgens nach dem Tee mit Weißbrot und Marmelade eine Art Lichtblitz im Kopf gehabt und müsse hernach einen durchdringenden Schrei ausgestoßen, sich vor Krämpfen geschüttelt haben und zu Boden gestürzt sein. Dabei sei er bläulich angelaufen und habe sich heftig auf die Zunge gebissen, ohne Schmerzen zu empfinden. Die Zunge habe beim Erwachen übel weh getan, was aber nicht so schlimm war wie die Peinlichkeit, dass seine Gedärme während des Anfalls nicht an sich halten konnten. Aber das sei normal, wenn man an so einer Krankheit leide. Das hatten die Ärzte gesagt, nachdem sie Großvater vor dem Erstickungstod gerettet hatten.
»Ich musste unter die Sauerstoffmaske, und Spritzen haben sie mir auch verpasst. Als ich wieder sprechen konnte, sagte man mir, ich könne froh sein, dass ich nicht im Mittelalter oder noch früher gelebt hätte.«
»Warum? «, wollte ich wissen.
»Damals hat man die Epilepsie für dämonische Besessenheit gehalten und den Fallsüchtigen Löcher in den Kopf gebohrt, wodurch die Geister entweichen sollten. Heute gibt es Medikamente. Wenn ich meine Tabletten regelmäßig einnehme, wo so ein Zeug drin ist, irgendwas mit Fenniteun und Mazepin, werden die Anfälle vielleicht nicht völlig aufhören, aber sie bleiben unter Kontrolle. Das hat dieser Nervenmediziner mit der Brille gesagt. Er war sehr belesen und wusste alles über meine Erkrankung. Einst nannte man sie SanktJohannes-Übel, weil man zu dem Apostel gebetet hat, damit die Attacken aufhören. Heute weiß man, dass bei der Epilepsie irgendwas im Gehirn nicht richtig fließt. Früher glaubten die Leute, der Mond sei schuld. Mondkrankheit. Sogar schon die Römer haben vom Morbus lunaticus gesprochen. Steht auch in der Bibel, sagte der Arzt. Evangelium des Matthäus. Kapitel siebzehn.«
Kathalina zögerte nicht. Aus einer Ecke kramte sie die Heilige Schrift hervor und reichte sie Ilja. Er blätterte eine Weile. Dann las er ohne zu stocken vor: »Herr, erbarme dich meines Sohnes, denn er ist mondsüchtig und hat schwer zu leiden. Dauernd fällt er ins Feuer oder ins Wasser. Ich habe ihn zu deinen Jüngern gebracht, aber keiner war in der Lage, ihn zu heilen. Und Jesus sprach zu seinen Anhängern: Oh ihr Ungläubigen. Wie lange soll ich noch bei euch bleiben und euch ertragen? Bringt den Jungen hierher! Und Jesus bedrohte den Dämon in ihm. Er fuhr aus dem Knaben heraus, und der Junge war auf der Stelle geheilt. Herr, fragten die Jünger, warum konnten wir diesen Dämon nicht austreiben? Und Jesus antwortete: Weil ihr kleingläubig seid. Wahrlich ich sage euch, wäre euer Glaube nur so groß wie ein Senfkorn, ihr würdet diesem Berg dort befehlen: Hebe dich hinweg von hier nach dort. Und der Berg würde sich hinwegheben. Nichts würde euch unmöglich sein.«
In der folgenden Zeit kam es des öfteren vor, dass sogar ich in der Bibel lesen wollte, mir aber von Ilja sagen lassen musste: »Erst bin ich dran.« Die Lektüre des Wortes Gottes wurde seine neue Leidenschaft. Sie brannte fast so stark wie die Sehnsucht, endlich seinen Freund aus der Nacht des Verstummens zu erlösen.
Den Schlüssel dazu lieferte ein Ereignis am 12. April des Jahres 1961, nur drei Tage nach dem österlichen Auferstehungsfest. Meine Mutter hatte während der vorgeschriebenen Mittagspause des familien eigenen Filialbetriebs den Fernseher schon früh eingeschaltet. Wie jeden Mittwoch strahlte die staatliche Fernsehanstalt aus der Landeshauptstadt die halbstündige Sendung » Frau daheim. Einfache Küch e - im Handumdrehn! « aus. Der Chefkoch des Athenee Palace demonstrierte darin in einem Kochstudio, wie sich mit wenigen Zutaten und etwas kulinarischem Geschick höchst schmackhafte und preiswerte Gerichte auf den Tisch zaubern ließen. Kathalina mochte die Sendung, weniger weil ihr der Sinn nach Abwechslung in der Küche stand, sondern weil ihr der Koch gefiel und sie zum Lachen brachte. Er war von sonderbarem Humor und Sprachgebaren. Alle naselang steckte er den kleinen Finger in die Kochtöpfe, leckte daran mit geschlossenen Augen, um mit gespielter Ratlosigkeit zu stöhnen: »Irgendetwas fehlt nochnochnoch.« Klar, dass er die entsprechende Zutat, mit gekünsteltem Erstaunen und dem Ausruf »Ist doch alles dadada«, plötzlich auf dem Küchentisch entdeckte.
Während Mutter über den Koch lachte, saß Großvater auf der Bank neben
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