Wie die Madonna auf den Mond kam
dem Kanonenofen und stöhnte. Bei seiner Lektüre der Bibel hatte er mit dem Alten Testament begonnen, hatte den Moses abgeschlossen und war über Josua, Samuel und die Bücher der Könige beim ersten Buch der Chronik angelangt. Als er im sechsten Kapitel, nach endlosen Erbfolgen, die auflisteten, wann wer wen mit wem zeugte, bei der Genealogie der Söhne des Manasse hängen blieb, wurde er so wütend, dass er das heilige Buch durch das Wirtshaus pfefferte.
»Wer in Gottes Namen denkt sich so einen langweiligen Mist aus? Das kann doch kein Mensch behalten.«
Kathalina wandte nur kurz den Blick von ihrem Fernsehkoch ab und meinte beiläufig: »Wenn Pater Johannes predigte, war die Bibel immer spannend. Warum liest du nicht, was sein Namenspatron damals zu Papier gebracht hat?«
Großvater folgte dem Rat, hob die Bibel auf und blätterte sich vor zum letzten Buch des Neuen Testamentes, der Offenbarung des Apostels Johannes. Aus einem undurchschaubaren Grund, den Dimitru später Intuition nennen sollte, begann er die Lektüre der Apokalypse nicht mit dem ersten Kapitel, sondern mit Kapitel zwölf. Genau in dem Moment, als Großvater begriff, was da in den ersten zwei Versen geschrieben stand, endete die Mittagspause.
Als ich das Türschild auf »Geöffnet« drehte, sprang Ilja wie von tausend Wespen gestochen auf und taumelte in euphorischem Rausch. Er jubelte, triumphierte und reckte die geballten Fäuste, als habe er einen schwersterkämpften Sieg errungen. Zuerst glaubte ich, bei Großvater sei die Mondkrankheit wieder ausgebrochen. Wie damals, als ihn der schwarze Balken auf dem Fernsehschirm faszinierte, rief Opa immer wieder: »Das ist es. Das ist es.« Dabei tippte er im Stakkato auf das zwölfte Kapitel der Offenbarung. »Der Beweis! Da steht der Beweis!«
»Ruhe! Ruhe, verdammt noch mal.« Kathalina drehte den Fernseher lauter.
»Aus aktuellem Anlass unterbrechen wir unsere beliebte Sendung >Einfache Küche - im Handumdrehn!< für eine aktuelle Nachricht. Nach dem erfolgreichen Sputnik-Flug 1957 hat die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erneut einen Meilenstein in der Geschichte der Menschheit gesetzt. Mit dem Luftwaffenmajor Juri Alexejewitsch Gagarin ist erstmals ein Mensch in das Weltall geflogen. Heute, am 12. April 1961, verbrachte der Kosmonaut an Bord des Raumschiffes Wostok 1 einhundertundacht Minuten in der Schwerelosigkeit. Gagarin ist inzwischen wohlbehalten zur Erde zurückgekehrt. Wir gratulieren unseren sowjetischen Freunden zu dieser epochalen Leistung und weisen auf unsere Sondersendung um zwanzig Uhr fünfzehn hin: >Juri Gagarin - der Mensch erobert das All.<«
Großvaters Hochstimmung über seine Einsicht in die johanneische Offenbarung schlug um in pures Entsetzen. »Komm mit«, forderte er mich auf, nahm seine Bibel und rannte zum Pfarrhaus. Ohne anzuklopfen stürmte er in die Bücherei, wo Dimitru mit zerrauftem Haar und blutleeren Augen in ein undurchdringliches Wirrwarr an Büchern stierte. Drei Jahre und fünf Monate hatte er in seinem Eremitendasein nicht mehr gesprochen.
»Hier! Lies das! Offenbarung des Johannes. Kapitel zwölf, Vers eins!«
Dimitru gehorchte wie jemand, dem jede Kraft fehlte zu widersprechen.
»Und ein großes Zeichen erschien im Himmel, ein Weib, angetan mit der Sonne, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt ein Kranz von zwölf Sternen. Und sie ist schwanger und schreit ... «
Dimitru weinte. Er weinte in den Armen seines Freundes Ilja.
»Papa Johannes wusste es«, sagte Dimitru leise. »Und nun wissen wir es auch. Das Weib, angetan mit der Sonne. Wenn sie den Mond unter ihren Füßen hat, dann heißt das ... «
» ... dass sie auf dem Mond stehen muss«, ergänzte Ilja. »Das ist es. Das ist der Beweis. Jetzt wird mir licht. Deshalb musste die Madonna vom Ewigen Trost verschwinden.«
»Was meinst du damit?«
»Ilja, mein guter Freund, ich memoriere das Antlitz der Madonna genau. Das mickrige Jesuskindchen! Oh, und ihre mächtigen Brüste. Aber auch ihre zarten Füße. Die Füße! Das ist es! Die Madonna steht auf einer Sichel. Auf einer Mondsichel! Das Märchen über die Entstehung von Baia Luna ist ein Irrtum. Ein Errorfatal, dem alle erlegen sind. Die Mondsichel kündet nicht vom Sieg der Christen über die Muselmänner. Sie zeugt von Marias Himmelfahrt! Der Bildhauer damals, der wusste das. Verstehst du? Deshalb haben die Bolschewiken die Madonna vom Mondberg geklaut. Damit ihre Propaganda bei der Bekehrung der Menschheit
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