Wie die Madonna auf den Mond kam
Radio London sprechen sie ständig von einer Märilinn. Weißt du, was das übersetzt heißt? Marialein. Maria und John Eff! John ist die Abkürzung von Johannes. Eff. Evangelist! Der Evangelist Johannes war der einzige Mensch, dem sich die Frau auf dem Mond in seinen Visionen gezeigt hat. Verstehst du, Ilja?«
»Der Ami hat's kapiert.« Großvater war selig. »Kennedy startet sein Gegenprojekt. Er will zum Mond. Und er weiß, die Zeit drängt.«
»Ich schätze, John Eff wird jetzt die Gelddruckmaschinen anwerfen. So ein Mondflug kostet viele Dollars. Wenn ich die Nachrichten aus London richtig verstanden habe, hat Amerika sogar einen Deutschen als Raketenbauer eingestellt. Wörner Braun oder so ähnlich. Ich sag dir, was der Deutsche in die Hand nimmt, das funktioniert.«
»Wenn der Deutsche beim Ami mitmischt«, zog Großvater ein Fazit, »dann hat Koroljow schlechte Karten.«
»Darauf kannst du Gift nehmen. Pavel, Zuika! «
Wie immer schlossen die Abendnachrichten mit dem Wetterbericht. Für Freitag, den 26. Mai, und die folgenden Tage wurden für die Karpaten sommerliche Temperaturen und ein strahlend blauer Himmel vorausgesagt. Sofort eilten Ilja und Dimitru vor die Tür. Die Nacht war sternenklar. In zwei Tagen war Vollmond. Was konnte günstiger sein für ihre teleskopischen Beobachtungen als die letzten Tage des Marienmonats Mai?
Am nächsten Tag ließen sich die beiden von mir den Aufbau des Himmelsfernrohrs und den Umgang mit dem Fotoapparat, Film und Blitzwürfeln erklären und baten meine Mutter, ihnen Proviant für einige Tage einzupacken. Nach Dimitrus Hinweis, die Dauerbelastung der Augen am Okularium des Fernrohres erfordere konzentrations stärkende Getränke, legte ich noch ein paar Flaschen Gebrannten dazu, wobei sich allmählich mein schlechtes Gewissen regte. Hatte ich doch das idiotische Vorhaben der beiden Marienforscher mit dem Besuch bei Gheorghe Gherghel überhaupt erst möglich gemacht.
» Vergiss deine Tabletten gegen die Mondkrankheit nicht«, giftete Kathalina.
Am Abend dann zogen die beiden los.
Gegen Mitternacht erreichten sie die Kapelle, in der einst die Madonna vom Ewigen Trost gestanden hatte. Auf einer Lichtung zwischen den Felsen errichteten sie ihr Lager, rammten das Dreibeinstativ in den Boden und montierten das Teleskop fest. Sie dankten den himmlischen Mächten für die freie Sicht auf den hellen, fast kreisrunden Mond und schickten ein inniges Bittgebet hinterher, die Gottesmutter möge sich dem gläsernen Auge des Fernrohrs nicht entziehen. Bei der Frage, wer zuerst durch das Teleskop schauen sollte, gerieten sich beide in die Haare. Jeder wollte dem anderen den Vortritt lassen. Schließlich justierte Ilja das Sehrohr aus in Richtung Mond.
Mit dem Moment, in dem er sein Auge gegen die Okularmuschel des Kepler'schen Teleskops drückte, verließ Ilja die Erde. Den Mund vor Erstaunen aufgerissen, trat er ein in den Raum zwischen den Zeiten. Das Studium der Mondkarte war die Mühe wert gewesen. Der Jesuit Giovanni Battista Riccioli hatte hervorragende Arbeit geleistet. Die kartografischen Aufzeichnungen des Astronomen deckten sich im Detail mit Iljas Beobachtungen. Als überbrücke sein Geist die Kluft zwischen Himmel und Erde, schwebte er zwischen den abgründigen Schluchten monumentaler Gebirgsketten, flog über runzelige Kämme und zerfressene Bergrücken und glitt über endlos weitläufige Wüsten. Grauschattige Ebenen taten sich auf, durchbrochen von zerklüfteten Wällen und braunrot getönten Gesteinstrümmern. Dazwischen brachen Ströme hervor, den Verästelungen trockener Flussbetten gleich, aufgetürmte Krater, rund und oval, manche riesig wie abgrundtiefe Schlünde, unzählige winzig wie der Kopf einer Stecknadel. Ilja erkannte den Krater, der nach dem römischen Geschichtsschreiber Plinius benannt war. Er lag im Norden des Mare Tranquillitatis, dem Meer der Ruhe, an das sich der Südrand des Mare Serenitatis anschloss.
»Ich hab's!«, rief Ilja aus. »Was?«
»Das Meer der Heiterkeit.«
»Und?« Dimitru bibberte nicht mehr vor Kälte, sondern vor Erregung. »Siehst du sie?«
»Nein. Schau selbst!«
»Tatsächlich. Das Mare Serenitatis. Aber ich sehe nur Steine.«
Die Frage »Was siehst du?« und die Antwort »Nichts« sollten sich in den nächsten vier Nächten mit regelmäßigen, aber immer größeren Zeitabständen wiederholen. Da ihre Augen schmerzten, wechselten sich die beiden jede halbe Stunde ab. Ohne Erfolg. Wenn der Mond am dunklen Horizont
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