Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
Vom Netzwerk:
abtauchte, redeten sie noch eine Weile, um festzustellen, dass es nichts zu bereden gab. Ansonsten sprachen sie sich gegenseitig den Mut zu, alles verlieren zu dürfen, nur nicht die Geduld. Mit den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne stieg Ilja zu einer kleinen Quelle hinab, stillte seinen Durst und nahm seine Tabletten gegen die Epilepsie ein, während Dimitru sich einige Zuika genehmigte, um bis zum Abend durchzuschlafen. Am letzten Maientag, einem Mittwoch, waren Brote, Wurst und Speck längst aufgebraucht, doch trotz knurrenden Magens, peinvoller Rückenschmerzen und Augenflirren beschlossen sie, noch die Nacht zum Donnerstag, dem 1. Juni, auszuharren. Als es endlich dämmerte und der Mond aufstieg, entkorkte Dimitru die letzte Flasche Obstbrand. Weil Ilja darüber klagte, ihm werde am Fernrohr schwindelig und schwarz vor Augen, schalt Dimitru ihn lallend einen störrischen Esel, der schleunigst ins Bett gehöre, woraufhin sich Großvater unter die Zeltplane verkroch.
    Dimitru schaute. Das Auge am Okular, klebte sein verklärter Blick am Mare Serenitatis, selbst dann, wenn der Durst seine trockene Kehle quälte. Zwischendurch nickte er für kurze Momente ein, kippte trunken zur Seite weg, zwang sich wieder zu schauen, bis ihn der Eindruck übermannte, der Mond beginne sanft zu rotieren. Dimitru drehte sich mit und tauchte ein in die schillernden Farbkaskaden der Regenbogenbucht Sinus Iridium, berauschte sich am Purpur des Palus Somnii und verzückte sich an der geometrischen Reinheit der konzentrischen Kreise des Kraters Taruntius. Vom Mare Humorum schweifte er westwärts, passierte das Wolkenmeer bis zum Mare Nectaris, schwenkte ein in nördlicher Richtung, bis sein Auge über den Krater Plinius wieder zum Ausgangspunkt seiner Reise zurückfand, dem Meer der Heiterkeit. Er nahm einen letzten Schluck Zuika und bot alle Kraft auf, sein Auge an das Fernrohr zu drücken.
    Als aus der Ferne leise zwölf Glockenschläge der Kirche von Apoldasch ertönten, sah er sie. In der Mitte eines unscheinbaren Kraters am Südwestrand des Mare Serenitatis blitzte sie auf, ihr strahlendes Antlitz der Erde zugewandt. Und am Rand des Kraters umringten sie, angeordnet wie die Ziffern einer Uhr, die zwölf Apostel. Aus ihren Kehlen tönte engelsgleich das Salve Regina, mater misericordiae.
    Dimitru weinte vor Freude, als ihn die Erinnerung an seine Mission einholte. Er montierte den Fotoapparat vor das Teleskop, zündete die Magnesiumblitze, um den Nachthimmel aufzuhellen, und belichtete Aufnahme über Aufnahme. Dann fiel er trunken vom Zuika und noch trunkener von Glückseligkeit in sich zusammen, das Fernrohr mit beiden Armen fest umschlungen wie nach einer wunderbaren Nacht mit einer Geliebten.
    Großvater weckte ihn, als die Sonne auf die Mittagsstunde zuschritt.
    »Und?«, fragte er. Dimitru sagte nur: »Mein Freund, Ilja, unsere Expedition wird ein Triumph.«
    Während Großvater die Fotokamera mit dem kostbaren Film und das Teleskop wieder einpackte, holte Dimitru das grasende Percheron, spannte es vor den Wagen. Dann traten sie den Heimweg an.
    »Ich sah sie. Sine dubio. Sie zeigte sich mir, so wie sie sich auch dem Evangelisten Johannes geoffenbart hat«, sagte Dimitru und reichte mir die Fotokamera. »Pavel, da ist alles drin. Nun bist du gefragt. Bist du sicher, dass du den Film in diesem Apparat in ein echtes Bild aus Papier verwandeln kannst?«
    »Kein Problem.« Meine Neugier auf Dimitrus fotografische Ergebnisse war zwar geweckt, doch ich fieberte vor Anspannung, endlich jenes Bild zu entwickeln, dessen Negativ sicher im Tabernakel der Kirche von Baia Luna lag. »Noch heute Nacht«, sagte ich, »mache ich mich an die Arbeit.«
    Da Großvater und der Zigan in technischen Dingen gänzlich unbewandert waren, hatte man mir die Einrichtung der Dunkelkammer überlassen. Mein Hinweis, zum Betrieb des Laboratoriums fließendes Wasser zu benötigen, hatte Dimitru auf die Idee gebracht, ich könn e doch die Waschküche der eins tigen Haushälterin Fernanda Klein in dem seit Jahren leer stehenden Pfarrhaus für meine Zwecke umrüsten.
    Die Einrichtung des Rotlichtlabors stellte mich vor keine nennenswerten Schwierigkeiten. Der Vorbesitzer hatte seine Apparate pfleglich in Schuss gehalten und alle Anleitungen für den Betrieb sorgfältig aufbewahrt. Ich hatte die Erläuterungen gewissenhaft studiert und trug die Geräte und die Fotokamera im Schatten der Nacht in den Waschkeller des Pfarrhauses. Ich verhängte das Fenster mit

Weitere Kostenlose Bücher