Wie die Madonna auf den Mond kam
Dimitru.
Morgens gegen acht stand Großvater auf, frühstückte und schluckte seine Pillen gegen die Fallsucht. Wenn er einen guten Tag hatte, half er mir im Laden oder fegte das Warenlager, an schlechten Tagen nörgelte er herum, zankte sich mit seiner Tochter, meiner schwergewichtigen Tante Antonia, und stand überall im Weg. An sehr guten Tagen unternahm er ausgedehnte Spaziergänge entlang der Tirnava. Manchmal begleitete ihn Dimitru. Sie redeten kaum, weil es kaum noch etwas zu bereden gab.
Kathalina vermutete, dass der schleichende Verlust an Lebendigkeit etwas mit dem Gelöbnis der beiden zu tun hatte, nur noch die Vernunft walten zu lassen. Insgeheim plagte die Mutter das schlechte Gewissen, spürte sie doch, mit dem Versprechen, das sie ihrem Schwiegervater und dem Zigan abgerungen hatte, waren den Freunden die Seelenflügel gestutzt. Aber einem Lupu Raducanu noch einmal ein Theater vorspielen zu müssen, das hätten ihre Nerven nicht verkraftet. Großvater und Dimitru fühlten sich zwar an das Versprechen gebunden, der Grund für ihre Niedergeschlagenheit aber war ein anderer.
Das Verhängnis nahm seinen Lauf am 5. August des Jahres 1962, als Dimitru vor dem Lautsprecher saß und Radio London hörte.
»Still! Nein! Nein! Das kann nicht sein. Sie ist tot!« » Wer ist tot? «, fragte ich.
»Märilinn! Mariechen. Die Geliebte von John EH! Freitod! Tabletten sagen sie. Zu viele Pillen und Wiskischnaps. Daran soll sie gestorben sein. Gerade mal Mitte dreißig!«
»Aber weshalb sollte sie sich umbringen?«, mischte sich Kathalina ein. »Sie war, soweit man hörte, doch schön und berühmt, hatte Geld und konnte an jedem Finger zehn Männer haben. Da schluckt man doch keine Tabletten!«
»Sehe ich auch so«, bestätigte Dimitru. »Das wäre nicht vernünftig. Da steckt was Dunkles dahinter! Das riecht ein Schwarzer wie ich.«
Mutters saurer Blick und der Satz »Fang nicht schon wieder an!« genügten, und Dimitru hielt den Mund.
Obschon Dimitru und Großvater jedwede Spekulation über den Tod der blonden Schauspielerin vermieden, nährte sich im folgenden Jahr ihr Verdacht: In Amerika und der Sowjetunion waren düstere Mächte am Werk. Die vage Befürchtung verfestigte sich zur deprimierenden Gewissheit an jenem Tag, als selbst die Transmontanische Rundfunkanstalt von nichts anderem sprach als von der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John Fitzgerald Kennedy. In dem respektvollen Nachruf wurde nicht nur die visionäre Kraft, sondern auch das ehrgeizige Raumfahrtprojekt des Präsidenten gewürdigt. Von seinen Liebesaffären war nicht mehr die Rede. Stattdessen erfuhr man, Kennedy habe als letzte Amtshandlung noch den Direktor des Nationalen Raumflugzentrums in Huntsville empfangen. Wernher von Braun habe den Präsidenten über alle Details der Saturn-Rakete und des Apollo-Mondfahrtprogramms unterrichtet.
Als Dimitru und Großvater erfuhren, der Attentäter, ein gewisser Lee Harvey Oswald, habe früher in der Sowjetunion gelebt, ahnten die Freunde, wer allein hinter dem Mordkomplott stecken konnte. Ich bin sicher, der Name Koroljow fiel nur deshalb nicht, um Kathalina nicht in Rage zu versetzen.
Dimitru meinte nur: »Der Oswald redet nicht. Da kann der amerikanische Geheimdienst foltern, wie er will. Wenn Oswald im Auftrag des Russen arbeitet, beißt er sich eher die Zunge ab.«
Zwei Tage später verflogen für Dimitru alle Zweifel über die Hintermänner des Attentats auf den amerikanischen Präsidenten. Oswald wurde auf dem Weg ins Gefängnis von einem zwielichtigen Nachtclubbesitzer erschossen und zum Schweigen gebracht, was für Großvater und den Zigan rückblickend die Initialzündung zu einer mörderischen Kettenreaktion war.
Der Sowjet ging über Leichen. Und der Amerikaner auch. Die bei den Weltmächte führten zwar nur einen Kalten Krieg, doch schalteten sie die führenden Köpfe ihrer Gegner offensichtlich gegenseitig aus. Jedenfalls zogen Dimitru und Großvater aus den Nachrichten im Radio diesen Schluss, und das glaubten sie auch Jahre später noch bestätigt zu sehen.
»Moskau, 5. Januar 1966: Der sowjetische Raketenspezialist Koroljow wird sich für einige Tage im Krankenhaus einer Geschwulstoperation unterziehen. Nach seiner Genesung rechnet man mit der Bekanntgabe des Termins für den ersten Mondflug der Sowjetunion. Der Kosmonaut Juri Gagarin lässt mitteilen, er stehe für die Mission bereit, auch wenn man ihn niemals zurückhole.«
»Moskau, 17. Januar 1966: Der
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