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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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Augenblick die Wärme der Scharnesröte durchströmte. »Lasst mich allein! «, schrie der Zigeuner, schlug den Pferden mit der flachen Hand auf den Hintern, sodass die Tiere zügig davontrabten. Dimi tru zwängte sich aus seinem eis starren Mantel und streifte seine Schuhe und Hose ab. Dann rannte er los. »Ein Zigan ist zäh! «, schrie er hinaus in den Schneesturm. »Und ich bin Zigeuner. Ich bin Zigeuner! Ewig werde ich leben! Ewig werde ich leben, zu weinen um meinen Vater. Vater, mein Vater.« Dann schluckte der Sturm seine Stimme.
    Dank der ausdauernden Percherons kam Großvaters Familie schon eine Stunde später im Dorf an. Die Nachbarn eilten herbei, steckten die halb Erfrorenen in dicke Federbetten und kochten kannenweise Pfefferminztee.
    Erstaunlicherweise kam die kleine Antonia als Erste wieder auf die Beine. Schon am nächsten Morgen war sie vollkommen genesen, und auch Ilja trug außer einem heftigen Schnupfen keine Anzeichen eines gesundheitlichen Schadens davon. Seine Frau hingegen war so ausgekühlt, dass sie trotz doppelten Gänsefederbetts nicht wieder warm wurde. Drei Tage rüttelte ein mächtiger Schüttelfrost Agnetas Leib durch, dass Großvater alle Mühe hatte, ihr mit dem Löffel heißen Holundersaft einzuflößen. Rund um die Uhr wachten Ilja und Nicolai an ihrer Seite, rieben Agnetas Hände warm und legten ihr heiße Tücher auf die Stirn.
    Nach einer Weile schien es Großmutter besser zu gehen. Sie richtete sich sogar ein wenig auf und konnte eine Tasse honigsüßer Milch mit der eigenen Hand zum Mund führen. Dann schlug die Kälte ihres Körpers in Hitze um. Agneta glühte, und das Fieberthermometer kletterte auf über vierzig Grad. Sie stöhnte unter qualvollen Brustschmerzen, konnte kaum noch atmen und erbrach sich in ständigem Husten. Als sie schließlich nach Doktor Bogdan in Apoldasch rief, diagnostizierte der Arzt eine weit fortgeschrittene Lungenentzündung. Die letzte Hoffnung für Agneta bestünde in einem neuen Medikament namens Penicillin, über das er jedoch nicht verfüge, was aber höchstwahrscheinlich bei dem Apotheker György in Kronauburg erhältlich sei. Hermann Schuster schwang sich in den Sattel. Als er nach zehn Stunden mit den ersehnten Tabletten zurückkam, war meine Großmama in Opa Iljas Armen verstorben.
    Waldarbeiter fanden Dimitru in Apoldasch, an der Kreuzung, wo sich die Straße nach Schweischtal und Kronauburg gabelt. In dem Schneesturm war er in die falsche Richtung gelaufen, hatte sich mehrfach im Kreis gedreht, bis er im Dunkel der Nacht jegliche Orientierung verloren hatte. Die Arbeiter wickelten den gefrorenen Körper in Schafsfelle und brachten ihn in die Apoldascher Schmiede, wo seinerzeit der junge Eisenschweißer Emil Simenov beschäftigt war, der später nach Baia Luna heiratete und die hiesige Schmiede übernahm. Es war bekannt, dass der grantelige Simenov kein Freund der Zigeuner war. Aber er war eigentlich niemandes Freund. Wenn die Männer in Großvaters Schänke dem barschen Kerl üble Laune und mangelnde Menschenfreundlichkeit vorwarfen, reagierte Simenov immer gleich: »Und wer, wer hat damals diesen schwarzen Schlauschwätzer gerettet? Ihr oder ich? Einen Eisklumpen haben sie mir in die Schmiede gebracht. Hätte ich diesen Dimitru Carolea Gabor nicht neben der Esse abgestellt, er wäre niemals aufgetaut. Und wer hat dem Schwarzen damals ein warmes Hemd, einen Blaumann und Nagelschuhe geliehen und nie zurückbekommen? Ich oder ihr? Höchstpersönlich habe ich diesen jammernden Hänfling zurück nach Baia Luna geschleppt. Zusammen mit diesen dämlichen kleinen Flaschen. Diese Schwarzen machen nur Ärger.«
    Wenn Emil Simenov von den drei Brancusi-Brüdern ein zustimmendes Nicken erntete, kühlte er sich wieder ab und gab Ruhe.
    Johannes Baptiste legte die gleichzeitige Bestattung von meiner Großmutter Agneta und von Dimitrus Vater Laszlo auf den Vormittag des 22. Dezember. Soweit man sich später erinnerte, war die Beerdigung im Jahr 1935 die größte in der Geschichte des Dorfes. Dutzende Delegationen reisten aus Bessarabien und der Bukowina, aus dem Banat und Walachien, aus der Dobrudscha und selbst aus dem fernen Budapest an, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen.
    Beim anschließenden Leichenmahl waren so viele Trauergäste zu bewirten, dass die Gabor-Sippe sich auf Jahre hin verschulden und s ämtlichen Goldschmuck und alle P ferde verkaufen musste. Niemand aus Baia Luna sollte an diesem Tag auf dem Friedhof fehlen, und die

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