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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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geeignet als ein Büßermarsch in die Berge, mitten im frostigen Dezember, am 24., dem Tag der verzweifelten Herbergssuche Marias mit dem ungeborenen Kind.
    Dass ich meine Großmutter Agneta nie kennenlernte, lag an einem Schlag des Schicksals, der meinen Großvater im Winter '35 traf. Eine Woche vor dem Weihnachtsfest spannte er seinen Gaul an und fuhr mit Agneta und den beiden Kindern, meiner Tante Antonia und meinem späteren Vater Nicolai, nach Kronauburg. Während Ilja das Warensortiment seines Kaufladens auffrischte, besuchte die Familie entfernte Verwandte. Weil die frühe Dunkelheit eine Rückfahrt am selben Tag erschwerte und zudem der erste Schneefall einsetzte, beschloss man, die Nacht in der Stadt zu verbringen, um am nächsten Morgen in aller Frühe wieder nach Baia Luna aufzubrechen.
    Um die Mittagszeit hatten sie mit der vollbepackten Kutsche bereits Apoldasch erreicht. Flussaufwärts der Tirnava folgend, würden sie mit dem ermüdeten Zugtier in einer Stunde wieder daheim sein.
    Dasselbe dachten auch der Zigeuner Laszlo und sein Sohn Dimitru. Wie es der Zufall wollte, hatten auch sie in Kronauburg in einer geschäftlichen Sache zu tun gehabt. Die beiden hatten bei dem Kronauburger Apotheker György fünfhundert Arzneifläschchen mit Korkverschluss bestellt. Erst zwei Jahrzehnte später erfuhr ich, was es mit diesen merkwürdigen braunen Fläschchen für eine Bewandtnis gehabt hatte. Aber ich will nicht vorgreifen. Jedenfalls hatten Laszlo und Dimitru ihre Pferde mit den Kisten voller Flaschen bepackt, um ebenfalls nach Baia Luna aufzubrechen. Hinter Apoldasch hatten sie Großvaters Familie eingeholt, und man beschloss, den Rest des Weges gemeinsam hinter sich zu bringen.
    Soweit ich weiß, kam das Unwetter von Südwesten her, von den Fogarascher Bergen. In Minutenschnelle war es da, zuerst die dichten grauen Wolken, dann die Sturmböen und schließlich der Schneesturm. Laszlo und Dimitru sprangen ab. Sofort legten sich ihre beiden Percherons auf die Seite, dem Sturm den Rücken kehrend. Großm utter Agneta, mein damals zwölf jähriger Vater und seine sechsjährige Schwester krochen hinten im Kutschwagen unter ihre Wolldecken, während Opa versuchte, das scheuende Pferd zu beruhigen. Von Panik erfasst, bäumte sich das Tier auf und hämmerte wiehernd mit den Hufen gegen den Sturm an. Als Großvater die beiden Zigeuner um Hilfe rief, schoss der Gaul plötzlich nach rechts. Hinein in die graudichte Schneewand. Hinein in die Tirnava. Das Pferd riss die Kutsche in die eisige Flut. Im letzten Moment konnte Nicolai aus dem kippenden Wagen springen. Laszlo stürmte auf die Kutsche zu. Doch bevor er Agneta und die kleine Antonia zu fassen bekam, schlug ihm der eiserne Radreifen so unglücklich gegen die Stirn, dass ihm das Blut aus Mund und Nase schoss und er, wie vom Blitz getroffen, in den Schnee stürzte. Ohne zu zögern sprangen Großvater und Dimitru in den Fluss. Blind von dem peitschenden Schneesturm, kämpften sie sich durch das brusttiefe Eiswasser in jene Richtung vor, aus der sie die Schreie von Agneta und Antonia vernahmen. Während der Gaul verzweifelt um sich schlug und sich in seinem Kampf gegen das Ersaufen immer mehr im Geschirr verhedderte, umklammerte Großmutter mit einer Hand die Holzstreben des Wagens, während sie mit der anderen Antonia an sich drückte.
    Als Großvater und Dimitru endlich durch die beißende Kälte zu den beiden vorgedrungen waren, hing Antonia nur noch blau verfärbt und steif im Arm ihrer Mutter. Die Männer boten ihre letzten Kräfte auf und zogen die beiden an Land. Sofort riss Dimitru Antonia die nassen Kleider vom Leib und wickelte sie in seine Pferdedecke. »Reiben, reiben! «, schrie er Nicolai an. »Reib deine Schwester warm, sonst stirbt sie.« Dann fiel Dimitrus Blick auf seinen Vater. Laszlo lag leblos im Schnee, der sich um sein Haupt zu einem blutroten Kranz verfärbt hatte.
    »Gott schenke mir ein langes Leben, um dich zu beweinen«, rief Dimitru und wandte sich an Ilja und Nicolai. »Nehmt die Pferde und bringt Mutter und Kind ins Bett. Sofort.« Er klatschte in die Hände, und die Percherons schnellten hoch. »Ilja, nimm deine Tochter, und du, Nicolai, nimmst deine Mutter. Steigt auf und reitet. Ich laufe.«
    »Nein.« Ilja widersprach. »Wir lassen dich und deinen Vater hier nicht allein.«
    Dimitru hörte nicht zu. Stattdessen tobte und schrie er sich die Seele aus dem Leib. Dabei fluchte er derart unflätig, dass die bibbernde Agneta für einen

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