Wie die Madonna auf den Mond kam
Blasmusikanten aus Apoldasch spielten so ergreifend, dass den Trauernden der Atmen stillstand und ihre Tränen zu eisigen Perlen gefroren. Das Mitgefühl der Dorfbewohner galt gewiss auch dem Zigeuner Laszlo, mehr jedoch noch meinem Großvater und den Halbwaisen Antonia und Nicolai. Um ihre Anteilnahme am Tod der jungen Mutter Agneta zu bekunden, waren sogar die Handelsgrossisten, die Gebrüder Hossu, aus Kronauburg erschienen. Sie versprachen Großvater, ihm die in der Tirnava versunkenen Waren ohne Berechnung zu ersetzen, und sie hielten ihr Wort.
Dass es vor der Doppelbeerdigung nicht zu einem Eklat kam, dafür hatte Johannes Baptiste am Tag zuvor gesorgt. Bei einer Inspektion des Friedhofshügels sah er, dass die bestellten Totengräber bereits ein Erdloch ausgehoben hatten. Dann hörte er leise Stimmen. Sie kamen von außerhalb der Friedhofsmauer. Der Organist Marku Konstantin und der Küster Knaup schachteten unter den Augen von Konstantins Schwägerin Kora mit Spitzhacken und Schaufeln ein Loch in den frostigen Boden.
»Was soll das? «, fragte der Priester.
»Das Loch ist für den Zigeuner«, antwortete Julius Knaup. »Er ist nicht getauft.«
Dem Benediktiner schoss das Blut heiligen Zorns ins Gesicht.
Keine Sekunde hatte sich Pater Johannes die Frage gestellt, ob Laszlo Gabor einen Taufschein besaß. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, den redlichen Zigeuner in ungeweihter Erde zu verscharren.
»Ich gebe euch fünf Minuten«, tobte er. »Genau fünf Minuten. Wenn nicht, bete ich jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Abend und jede Nacht dafür, dass eure schmutzigen Seelen am Ende der Zeiten auf ewig im Dreck der Hölle kriechen.«
Zwei Minuten später war, wie Großvater gern schmunzelnd zum Besten gab, das Loch wieder zu.
Soweit ich weiß, war Laszlo Carolea der Erste aus der Gabor - Sippe, dessen sterbliche Überreste in gesegneter Erde ihre letzte Ruhe fanden. Voller Dankbarkeit zogen die Zigeuner nach der Beerdigung ihres Bulibasha zum Haus des Pfarrers, wo sie darauf bestanden, dass jeder die geweihte Hand des Gottesmannes zu küssen habe. Dann baten sie, angeführt von Dimitru, um das Sakrament der Taufe. Es wurde ihnen gewährt. Ohne zu zetern ließ Dimitru geschehen, dass Pater Johannes sein zotteliges Haupt dreimal beidhändig, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, in das geweihte Wasser des Taufbeckens stieß, was Kora Konstantin erneut die Gelegenheit gab, sich bis ins Mark ihrer Anständigkeit zu empören.
Nachdem die Zigeuner drei Tage ihre neue Gotteskindschaft gefeiert hatten, platzte die Kirche von Baia Luna sonntags aus allen Nähten. Eine halbe Stunde, bevor die Glocken läuteten, harrten die Gabors schon vor dem Kirchtor, versessen darauf, den Leib des Herrn zu empfangen. Allerdings nahm ihre Begeisterung für die Magie des Sakralen im Lauf der Zeit rapide ab. Als sie feststellen mussten, dass trotz Weihrauchs, Weihwassers und priesterlichen Segens die Kümmernisse des Alltags dieselben blieben, begannen die Rituale der Messfeier sie zu langweilen.
Abgesehen von Dimitru.
Ich kann mich nicht entsinnen, ihn einmal am Sonntag nicht in der Kirche gesehen zu haben, außer im Sommer, wenn undurchsichtige Geschäfte ihn zum Reisen zwangen. Wenn Johannes Baptiste auf seine Predigtkanzel stieg, saß Dimitru mit offenem Mund in den vorderen Bankreihen. Neben seinem Freund Ilja. Ich sah förmlich, wie Dimitru jedes Kanzelwort in sich hineinsaugte. Anders als Großvater, der während der Predigten bisweilen einnickte.
Mit dem Unglück am Fluss hatte für die beiden Männer eine Freundschaft begonnen, eine Verbrüderung im Geiste, die, das darf ich vorwegnehmen, die Stürme der Zeit überdauern sollte. Auch wenn Großvater über Dimitrus Leben nicht sonderlich Bescheid wusste.
»Kannst du eigentlich schwimmen?«, hatte er den Zigeuner gefragt, Jahre, nachdem sie gemeinsam in die eisige Tirnava gesprungen waren.
»Was glaubst du denn«, hatte Dimitru geantwortet. »Ich war schon ein Fisch im Leib meiner Mutter.« Jeder im Dorf wusste indes, dem wasserscheuen Dimitru Gabor grauste schon vor Angst, wenn ihm eine Pfütze in die Schuhe schwappte.
Großvater meinte, in Dimitru wäre durch die Trauer über den Tod seines Vaters eine gewisse Ernsthaftigkeit herangewachsen, die, wie ich fand, aufgrund seines flatterhaften Naturells nicht richtig geerdet war. Dennoch muss die Taufe einst bei ihm einen wahren Schub an Leidenschaft für grundlegende Fragen des Lebens bewirkt
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