Wie die Madonna auf den Mond kam
Geschrei der Kinder.
»Mein Sohn, mein feiner Sohn! Wie lange warst du nicht mehr hier?« Mit ausgestreckten Armen stürmte die Witwe Vera auf Lupu zu. Seit einem Jahr hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Nur zur letzten Weihnacht war ein Päckchen mit einem Versorgungslastwagen der Militärs gekommen. Neben einer Salami, Bohnenkaffee und einem Stück Luxor-Seife in Goldfolie hatte Vera lediglich einen Zettel mit drei dürren Worten gefunden: »Frohes Fest, Lupu.« Doch nun war die Enttäuschung vergessen. Sie flog ihrem Sohn entgegen, der mit demonstrativer Abgeklärtheit auf dem Dorfplatz stand.
»Lupu, mein Sohn, weißt du nicht, wie sehr dich deine Mutter vermisst? Du besuchst mich nie. Warum holst du mich nicht raus aus diesem elenden Nest? Warum dieser Undank?«
Vera, gebürtige Adamski, hatte in jungen Jahren mit Aurel Raducanu einen hohen Offizier der staatlichen Sicherheit geheiratet und war erhobenen Hauptes von Baia Luna nach Kronauburg in eine stattliche Villa am Klosterberg gezogen. Bis sie vor drei Jahren ihren Mann nachts im Bad fand. Er lag neben der Kloschüssel, das Gesicht gelb verfärbt und mit aufgedunsenem Bauch wie bei einem toten Schwein. Die Diagnose Leberzersetzung machte die Runde. Vera Raducanu ereilte der freie Fall in den Abgrund. Ihr wurde die Pension gestrichen, das Anwesen am Klosterberg hatte sie zu räumen. Um der Schmach zu entgehen, als Frau von gesellschaftlichem Rang in einem schäbigen Wohnblock am Stadtrand zu verkümmern, hatte es Vera vorgezogen, in Baia Luna im Haus ihres Cousins, des Postboten Adamski, Unterschlupf zu nehmen. Nur für kurze Zeit, wie sie bei jeder Gelegenheit betonte. Denn ihr Sohn Lupu, der in den Fußstapfen seines Vaters eine steile Karriere bei der staatlichen Sekurität durchlief, werde sie schon bald zurückholen in die gehobenen Kreise der Stadt.
Major Lupu Raducanu überging die Klagen seiner Mutter mit einem knappen »Ich habe dienstlich zu tun« und wendete sich an die Umstehenden. »Wohnt sie da unten?« Er deutete in Richtung der Wohnkate von Angela Barbulescu und erntete ein Nicken. Der Sekurist hob nur kurz das Kinn, was Cartarescu und der ältere Polizist aus Kronauburg als Hinweis verstanden, ihm zu folgen.
Zehn, fünfzehn Minuten sahen sich die drei im Haus der Lehrerin um und gelangten zu dem Schluss, eine aufwendige Spurensicherung sei nicht erforderlich. Plutonier Cartarescu beschlagnahmte lediglich die leere Schnaps flasche und das Glas. Die Beweisstücke galten als Indiz, dass wieder einmal der Alkohol einen Menschen in eine Verzweiflungstat getrieben hatte.
Auf dem Dorfplatz erklärte der ältere Polizeibeamte, allein im Bezirk Kronauburg würden jedes Jahr vierhundert Personen als vermisst gemeldet. Die Hälfte tauche nach einer Woche wieder auf, ein Gutteil habe sich vor familiären oder ehelichen Pflichten aus dem Staub gemacht oder sei mit dem Geliebten oder der Gespielin durchgebrannt, während das Verschwinden von zwei, drei Dutzend Personen eine Folge der Trunksucht sei.
»Schlimm, schlimm, diese Säufer«, bestätigte Cartarescu seinen Vorgesetzten. »Und wir müssen die Leute identifizieren. Vor allem im Frühjahr, wenn nach der Schneeschmelze ihre Leichen auftauchen. Erst trinken sich die Selbstmörder besinnungslos, dann erfrieren sie im Schlaf. Weißt du noch, letzten Sommer, der Fall mit dem Gebiss?«
»Hör bloß auf«, stöhnte der Dicke und schob sich eine neue Carpati zwischen die Lippen. »Drei Goldzähne. Wer hat die schon? Nur der Schädel lag da. Oben im Fogaraschen unterhalb der Schlucht von Ortuella. Nur die nackte Birne mit ein paar Haarbüscheln dran. Und die Knochen, überall verstreut. Arme, Rippen, Oberschenkel. Klar, die Wölfe und Bären, die bringen alles durcheinander. Wie bei den Schwarzen. Wo der Tatort war, wussten wir, als wir die Flasche fanden. Der Korken steckte noch drin. Sich voll saufen und die Flasche ordentlich verschließen, das machen Selbstmörder nie. Die Flasche war auch nur zur Hälfte ausgetrunken. Wollt ihr wissen, warum? Es war eine Frau! Wir dachten schon, wir müssten sämtliche Zahnärzte im Bezirk abklappern. Aber wir hatten schnell den richtigen. Der sagte sofort: >Die kenn ich. Drei Goldzähne, zwei rechts oben, einer links unten.< War die Ehefrau vom Dascalescu, zweiter Mann bei der Kronauburger Elektrizität. Ein lüsterner Bock, sag ich euch, scharf auf alles, was Röcke trägt. War ihr wohl zu bunt geworden. Ehefrau sein und immer nur letzte Wahl. Bringt sich
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