Wie die Madonna auf den Mond kam
ich vor lauter Studien nie mals in der Heiligen Schrift gelesen habe. Wozu auch? Ich kenne jedes Wort des Herrn, von der Predigt auf dem Berg über das Paternoster bis zu dem letzten Satz am Kreuz, als er mitkriegte, dass sein Vater ihn verlassen hat. Ich weiß auch, wann und wo der Jesus welches Wunder gewirkt hat. Er hat Brote vermehrt, den armen Lazarus geheilt, Blinde konnten wieder sehen. Auf sein Wort hin suchten Dämonen das Weite, und Ehebrecherinnen wurden nicht gesteinigt. Nicht zu vergessen, Wasser hat er in feinsten Wein verwandelt. Und was das Alte Testament angeht, da kann ich dir die Zehn Gebote rückwärts und die ganzen Erbdynasterien vom Adam über den Abraham und Isaak und den weisen Salomon bis zu was weiß ich wem auswendig aufsagen. Selbstverständlich nur, wenn du darauf bestehst, mein Freund.«
»Lass mal«, winkte Großvater ab. »Aber eine richtige Bibel könntest du mir aus der Bibliothek schon besorgen. Natürlich nur zum Ausleihen.«
Dimitru seufzte. »I1ja, zürne nicht. Ich muss beichten. Es gibt keine Bibel in der Bücherei. Aber es gab eine. Damals, als meine Laufbahn als Bibliothekar begann. Im Winter, als deine selige Frau Agneta und mein seliger Vater Laszlo starben, nahm ich die Bibel mit zu meinen Leuten. Obwohl Papa Baptiste es mir verboten hatte. Und was machen diese Zigeuner? Heizen mit dem Papier die Herdfeuer an. Der Herrgott wird ihnen vergeben, wie allen, die nicht wissen, was sie tun.«
»Wie ich höre, sind die Herren mal wieder beim Grundsätzlichen angelangt.« Meine Mutter trat aus der Küche.
»Stell dir vor, Kathalina, zwischen den tausend Büchern in Dimitrus Bibliothek findet man keine einzige Bibel.«
»Na ja, Hauptsache du hast eine, jetzt, wo du selber lesen kannst.«
»Was meinst du damit, ich habe eine ... «
»Na, das Buch in der alten Zigarrenkiste. Du wirst auf deine Tage aber wirklich vergesslich.«
Das Geschenk von Johannes Baptiste! Eingewickelt in Packpapier. Als der Priester ihm das Präsent an seinem Geburtstag überreichte, hatte Großvater erfühlt, dass in der Verpackung ein Buch steckte. Als er es nun aus der Zigarrenkiste holte, jubelte er: »Die Heilige Schrift, Dimitru, wenn das kein Zufall ist.«
»Es ist kein Zufall. Der Himmel sendet uns Zeichen.« Großvater nahm sich vor, mit seiner Bibellektüre noch einige Tage zu warten. Beginnen wollte er mit dem Neuen Testament. Und was konnte dafür geeigneter sein als der bevorstehende 24- Dezember. Allerdings hatte Christi Geburtstag durch den Benediktiner Johannes Baptiste einen Wandel in seiner Bedeutung erfahren. Die Freude über die Geburt des Jesuskindes wurde überschattet von der Erinnerung an die vergebliche Suche Josephs und seiner hochschwangeren Maria nach einer Herberge. Aus Zorn über die Verstocktheit seiner Gemeinde, die der Sippe der Zigeuner eine Bleibe im Dorf verwehrt hatte, ließ Baptiste damals die Madonna vom Ewigen Trost aus der Pfarrkirche in eine neue Kapelle auf dem Mondberg bringen. Bei Schnee und Frost quälten sich die Gläubigen den Berg hoch, verfluchten ihre Sünden und gelobten reuig Besserung. Bis zur nächsten Weihnacht. Schon seit einundzwanzig Jahren. Im letzten Jahr, der Weihnacht 1956, hatte ich in der Spitze des Zuges erstmals zu spüren bekommen, dass die Wallfahrt gegen die Hartherzigkeit alles andere als ein Spaziergang war. Nun stand der zweiundzwanzigste Büßermarsch bevor.
Doch Pater Johannes war tot, sein Leichnam verschollen.
Keine zwei Monate waren verstrichen, seit wir den zu Tode gepeinigten Priester im Pfarrhaus entdeckt hatten, und schon nagte an manchem Gedächtnis in Baia Luna der Zahn des Vergessens. Die heißblütigen Schwüre, man werde dem Priester auf ewig die Treue halten, kühlten ab. In der Schankstube hörte ich, wie die Ersten zaghaft anfragten, ob eine stundenlange Prozession hoch zum Mondberg in diesen Tagen über haupt noch Sinn mache. Andere betonten, auch in diesem Jahr gern die Strapazen des Bußgangs auf sich nehmen zu wollen, deuteten aber an, sich am Heiligen Abend womöglich um den betagten Vater oder die kranke Schwiegermutter kümmern zu müssen.
Um dem schleichenden Verfall der dörflichen Gemeinschaft etwas entgegenzusetzen, beriefen Hermann Schuster, Istvan Kallay und Trojan Petrov für den vierten Advent eine Dorfversammlung aller Männer und Frauen ein. Es wurde die kläglichste Versammlung, an die sich Großvater erinnern konnte. Unter den sieben Männern waren fünf Sachsen und die Initiatoren des
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