Wie die Madonna auf den Mond kam
Treffens, Kallay und Petrov. Nach einer knappen halben Stunde hatten sie drei Entschlüsse gefasst. Erstens: Die Prozession findet unter allen Umständen statt, sei die Schar der Pilger auch noch so klein. Zweitens: Jeder der Anwesenden verpflichtet sich, mindestens noch zwei Bewohner aus Baia Luna von der Notwendigkeit des Bußgangs zu überzeugen. Zum Dritten entschied man, befürchtend, das Hickhack um das Für und Wider der Prozession werde in den kommenden Jahren noch größer, die Madonna vom Ewigen Trost vom Mondberg herunterzuholen, um sie wieder an jenen Platz in der Pfarrkirche zu stellen, wo sie vor der Ankunft Johannes Baptistes gestanden hatte. Als der Küster Julius Knaup verspätet zu der Versammlung stieß und mutmaßte, sei die Madonna erst wieder in der Kirche, dann werde in Baia Luna gewiss auch das Ewige Licht wieder leuchten, löste man das Treffen auf.
Als wir uns am Morgen des 24. Dezember unter dem kalten und sternenklaren Nachthimmel um kurz vor fünf im Dorf trafen, zählte Hermann Schuster gerade einmal zwei Dutzend Madonnenwallfahrer. Seine Enttäuschung wurde gemildert, weil sich in der nächsten Stunde noch einige Pilgerwillige auf dem Dorfplatz einfanden. Sie entschuldigten ihre Verspätung damit, seit die Stundenuhr am Kirchturm nicht mehr schlage, sei ihnen die Zeit durcheinander geraten. Irgendwann im Advent waren die Zeiger auf zwölf Uhr fünfzehn stehen geblieben und sollten sich, eingerostet und zerfressen vom Zahn der Zeit, auch nie mehr bewegen.
Wir hatten unsere Kräfte überschätzt. Gegen den Rat der Älteren hatten Petre Petrov und ich getrieben, die verlorene Zeit durch den verspäteten Abmarsch mit gesteigertem Tempo wettzumachen. Nun war es Mittag, und wir wurden immer langsamer. Der Carpati-Raucher Petre Petrov japste trotz seines jugendlichen Alters alle paar Schritte nach Luft, und Hermann Schuster junior klagte über solch heftige Seitenstiche, dass ihm jeder Schritt zur Qual wurde. Er fiel immer weiter zurück. Als er sich vor Schwäche übergeben musste, schickte ihn sein Vater zurück ins Dorf. Dass wir trotz der tiefen Temperaturen nicht froren, lag an der Kraft der Sonne, die von dem stahlblauen Himmel herabbrannte. Oberhalb der Baumgrenze jedoch würde uns der Wind erbarmungslos um die Ohren pfeifen. Bis dahin brauchte es noch eine knappe Stunde. Eine weitere Stunde führte dann in sanftem Anstieg zu der Kapelle der Madonna vom Ewigen Trost. Man hatte beschlossen, sich dort lediglich für ein kurzes Gebet aufzuhalten, die Marienfigur in Decken zu wickeln und schnellstens nach Baia Luna zurückzukehren. Wenn erst die Sonne hinter den Bergen verschwand, würde es bitterkalt.
Statt einer benötigten wir fast zwei Stunden bis zur Baumgrenze. Vielleicht lag es an der Erschöpfung, möglicherweise aber auch daran, dass sich der Sinn der Pilgerei mit jedem mühsamen Schritt ein wenig mehr verflüchtigte. Jeglicher Bußeifer war einer dumpfen Lethargie gewichen, sodass niemand von uns Jugendlichen an der Spitze des Zuges vor Entsetzen aufschrie. Wo die letzten Rotbuchen ihre laublosen schwarzen Äste in den eisblauen Himmel reckten, stieß Andreas Schuster zuerst Petre an, dann mich. In stummem Grauen streckte Andreas die Hand aus und deutete in den kahlen Winterwald. Wie gebannt, hielten auch die anderen Wallfahrer inne, blick ten um sich, verstört und nach Atem ringend, bis alle in dieselbe Richtung schauten.
Die Tote hing an einem Strick an einem schwarzen Ast. Sie wehte im Wind. Ihr Haar war zu Strähnen gefroren, und auf ihrem Haupt lag eine Krone aus Schnee. Nur ich wusste in diesem Augenblick des Schreckens sofort, wer die Frau in dem sommerlichen Kleid mit den gelbbraunen Sonnenblumen war.
Karl Koch reagierte als Erster. Er nahm Hermann Schuster und Istvan Kallay zur Seite. Die drei nickten kurz. Karl ging auf die Alten und die Frauen zu, die ohne jeden Widerspruch die Kinder bei der Hand nahmen und sich auf den Weg zurück nach Baia Luna machten. Als Karl Koch auch Kora Konstantin am Arm fasste, um sie sanft, aber bestimmt auf den Weg hinunter ins Dorf zu drängen, fauchte sie ihn an und zog ihm blitzschnell ihre scharfen Fingernägel durch das Gesicht, wo sie auf Kochs Wange drei blutige Striemen hinterließen. Kora geiferte: »Ich will nicht zurück. Ich will zur Madonna.« Hermann reichte seinem Freund ein Taschentuch, dann kämpften wir Jungen und Männer uns langsam vor in den Buchenwald. Gefolgt von der schnaufenden Konstantin. Stumm standen wir
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