Wie die Madonna auf den Mond kam
verwandelst Wein in Blut. »Kinder sind unsere Zukunft«, ist unter deinem Bild zu lesen. Dieser Satz ist schön, und er ist wahr. Meine Zukunft wurde keine neun Monate alt. Du und deine Genossen haben meine Zukunft entsorgt. Als blutigen Klumpen Fleisch für die Mülltonne. Seitdem kann mir nichts mehr widerfahren, was nicht längst geschehen wäre.
Stefan, du wirst einmal ganz oben sein. Doch deine letzten Stunden sind eingeläutet. Dafür bete ich zu keinem Gott, dafür bringe ich das letzte Opfer, das mir möglich ist. Und wenn sie mich für dieses Opfer in ungeweihter Erde bestatten und wenn ich dafür zur Hölle fahre, ich schwöre dir, eines Tages holen wir dich nach.
Baia Luna, am 6. November :1957 gez. Angela Maria Barbulescu und ein Kind ohne Namen
Als mich der Schauder der Erkenntnis traf, das braune Kreuz in dem Tagebuch meiner Lehrerin war mit nichts anderem geschrieben als mit Blut, öffnete sich die Tür zur Schlafkammer nebenan. Ich vernahm die Schritte meiner Mutter Kathalina. Es musste gegen sechs Uhr morgens sein. Die Nacht war zu Ende, obwohl sie für mich erst begann. Was man Angela einst in einer Arztpraxis in der Hauptstadt angetan hatte, vermochte ich mir mit meinen nicht einmal sechzehn Jahren nicht vorzustellen. Ich wusste nur, Doktor Stefan Stephanescu hatte dafür gesorgt, dass sein Kind im Leib der Angela Maria Barbulescu nicht das Licht der Welt erblickte. Dem Wissen darum durfte es nicht so ergehen.
Mit meinem Blick in die grüne Kladde waren die Tage meiner Kindheit vorbei. Meine Lehrerin war eine andere als die, die ich zu kennen glaubte. Aus diesem Wissen erwuchs eine Verpflichtung.
»Schick diesen Mann zur Hölle! Vernichte ihn!« »Ja«, sagte ich. »Ja, das werde ich.«
Kathalina klatschte in ihre Hände. »Meine Herren, die Nacht ist um.« Ilja und der Zigan Dimitru lagen auf dem Dielenboden neben dem Ofen. Nur langsam kamen sie zu sich und rieben sich den Schlaf aus den Augen. Ohne zu murren, folgten sie Kathalinas Befehl, sich am Brunnen im Hinterhof einer Gesichtswäsche zu unterziehen, die bei Dimitru allerdings recht dürftig ausfiel. Erquickt von dem eisigen Wasser, dachte Ilja sofort an den vorabendlichen Spiritusgenuss. Zufrieden registrierte er, dass ihn weder Kopfschmerz noch Herzrasen plagte, während Dimitru wie ein Lehrer mit dem Zeigefinger drohte: »Erste Stunde. Schreiben und Lesen. Lektion eins. Das Alphabet.«
In den Wochen bekam ich bei Großvaters Unterrichtsstunden am Küchentisch mit, dass Dimitru zwar nicht der geduldigste, dennoch aber ein guter Lehrer war. Mit Ein fallsreichtum gesegnet, verfasste er die Übungstexte der täglichen Lektionen selbst. Er begann mit einzelnen Wortbeispielen, wobei er zunächst alle Begriffe mit zwei, drei und dann mit vier Buchstaben aufschrieb, die ihm in den Sinn kamen. Danach ging er über zu zusammengesetzten Wörtern und knappen Spruchversen, bis Großvater schließlich einfache, von Dimitru verfasste Gedichte über die Schönheit der Frauen und die Wonnen der Lust, erst noch stockend, den Buchstaben mit dem Zeigefinger folgend, dann jedoch zusehends sicherer zu lesen vermochte. Bald schon holte Dimitru aus der Bücherei dünne Erbauungsheftchen über das Leben der heiligen Märtyrer sowie eine illustrierte Kinderbibel.
Wider alle Erwartung lernte Ilja das Lesen mit seinen fünfundfünfzig Jahren in atemberaubendem Tempo, nicht aber das Schreiben. Nur mit Mühe gelang es Großvater, auch nur zwei Worte einigermaßen leserlich auf ein Blatt zu bringen, dafür verlangte er nach nur vier Wochen Unterricht nach einem »richtigen Buch«.
»Was schwebt dir im Sinn?«, fragte Dimitru, erfreut und versessen darauf, Iljas Wunsch aus den reichen Beständen der Bibliothek erfüllen zu können.
»Ich denke an das Alte und Neue Testament. Ich kenne die Bibel nur aus den Worten unseres guten Pfarrers. Jetzt drängt es mich, die Heilige Schrift selber zu studieren.«
»Wunderbar, wunderbar, du bist auf dem richtigen Weg.« Dimitru jauchzte, dann stutzte er und trommelte, wie immer im Zustand höchster Nervosität, mit den Fingern auf der Tischplatte. »Ich kenne die Bibel auch. Ich meine, ich glaube sie zu kennen. Aber mir geht es wie dir. Ich war jeden Sonntag in der Kirche, außer wenn mich mein Reliquiengeschäft zum Reisen zwang, und glaube mir, jede Lesung, jedes Evangelium und jede Predigt von Papa Baptiste klingt mir im Ohr, als stehe er justamente auf seiner Kanzel. Aber ich muss zu meiner Schande gestehen, d ass
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