Wie die Madonna auf den Mond kam
Hätte ich doch damals in ihrer Wohnstube ihre Hand ergriffen und gehalten, ging es mir wieder und wieder durch den Kopf. Als sie Stephanescu verbrannte. Aber da war sie nur die Barbu. An dem Ast jedoch hing Angela Maria, und aller Schmerz, alles Leid lag hinter ihr. Und aller Hass.
Andreas, Istvan und Petre kamen schneller zurück, als erwartet. Aufgebracht warf Andreas die Wolldecken in den Schnee und keuchte: »Die Madonna ist weg.«
»Wie? Ist weg?«
»Sie, sie ist nicht mehr in der Kapelle.« Petre bekam kaum noch Luft. »Der Sockel ist leer.«
Ein Sturm aus Fragen brach los. »Warum? Wieso? Was ist passiert ?«
»Einfach weg! Gestohlen!«, rief Istvan. »Kapiert doch, die Madonna ist nicht mehr da.«
Hermann Schuster fiel vor Ratlosigkeit nichts anderes ein, als ein »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir« anzustimmen, doch die wenigsten Männer fielen in das Gebet ein. Als Schuster aussprach: »Du bist gebenedeit unter den Weibern und gebenedeit ist die Furcht deines Leibes«, zog Kora Konstantin alle Blicke auf sich.
Die ganze Zeit über hatte sie abseits im Schnee gesessen und den Eindruck erweckt, als ruhe sie von den Strapazen der Wanderung aus. Nun sah jeder in ihrem Gesicht die ungeheure Anspannung, hinter der die Boshaftigkeit und der Geifer lauerten. Und es schien, als habe Kora diese Spannung nur ausgehalten, um sie in diesem einen Augenblick zu zerreißen. Sie bebte einen Moment, und bevor man die Lage vollends begriffen hatte, explodierte ihr ganzer Hass.
»Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes! Nein! Nein! Nein! Dieser Leib ist verflucht. Die Barbu ist schuld! Diese Teufelin! Diese Hexe!«
Koras gellendes Geschrei durchschnitt die Stille der Berge, dass mir das Blut in den Adern gefror. Wie eine Irre stürmte sie auf den Leichnam an dem Strick zu. »Du Mörderhure, du verfluchte Satansbraut. Zur Hölle mit dir! «, kreischte sie und sprang an der Toten hoch. Sie hatte einen Zipfel des Kleides erwischt, zog und zerrte an dem dünnen Stoff, bis das Sonnenblumenkleid zerfetzte, schließlich abriss und den toten Leib der Angela Barbulescu vollends entblößte.
Der Furor war in solcher Windeseile über die Männer hinweggebraust, dass sich niemand rührte, um die Raserei der Konstantin zu bremsen. Ich ging ruhig auf sie zu und schlug ihr mit aller Kraft die Faust ins Gesicht. Ein Schwall Blut schoss aus ihrer Nase und spritzte in den Schnee. Kora Konstantin verstummte auf der Stelle.
Noch eine halbe Stunde, dann würde die Sonne hinter dem Mondberg verschwinden.
»Auch wenn sie so enden musste, so war sie doch auch ein Mensch«, sagte der Küster Julius Knaup.
»Deshalb sollten wir sie nicht den Wölfen und Bären überlassen«, sagte Hans Schneider, während sich Karl Koch an einen Ast klammerte, sich aufschwang und die Rotbuche hinaufkletterte, um das Seil über der Toten zu durchschneiden.
»Fangt sie wenigstens auf«, rief er erbost. Die beiden Scherbans sprangen herbei und halfen mir, den steifgefrorenen Leichnam entgegenzunehmen. Wir wickelten die Nackte in die Decken, die für die Madonna vom Ewigen Trost vorgesehen waren. Dann band Karl Koch das Bündel mit dem Strick zusammen und hievte die Tote auf seine Schultern. Wir traten den Abstieg ins Tal an. Jeder ging für sich, nicht achtend, ob der Nachbar Schritt halten konnte oder nicht.
Nicht nur ich, auch Großvater wusste in dieser Stunde, die Bande der dörflichen Gemeinschaft waren zerrissen. Daran änderte auch nichts, dass die Frauen aus B aia Luna zwischenzeitlich die P farrkirche geschmückt hatten. In den Jahren zuvor war das Abschlussgebet zum Ende des Bußgangs immer kurz und schlicht ausgefallen, weil die erschöpften und frierenden Pilger nach ihrer abendlichen Ankunft im Dorf nichts anderes ersehnten als eine warme Stube. Nun jedoch hatten die Frauen die Kirche mit Tannengrün, weißen Kerzen und roten Schleifen weihnachtlich hergerichtet, um der Madonna einen würdigen Empfang zu bereiten. Als sie jedoch erfuhren, auf den Schultern Karl Kochs werde die Barbu zu Tal getragen, löschte man die Kerzen in der Kirche wieder aus.
Den Verbleib der Leiche Angela Barbulescus hatten Küster Knaup und der Organist Konstantin bereits auf dem Rückweg vom Mondberg geklärt, obwohl Hermann Schuster über die beschlossene Lösung nic ht glücklich war. Gab es doch in der Geschichte Baia Lunas keinen einzigen Fall, dass ein Bewohner freiwillig Hand an sich gelegt hatte. Wohl war einst auf Geheiß von
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