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Wie die Madonna auf den Mond kam

Wie die Madonna auf den Mond kam

Titel: Wie die Madonna auf den Mond kam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Bauerdick
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unter dem Baum und schauten hinauf zu der Leiche, deren nackte Füße vor unseren Augen in der Luft pendelten.
    »Im Frost halten sich Tote gut«, sagte Karl Koch, »ich frag mich bloß, warum geht die Barbu im Winter in einem Sommerkleid hier hoch, um sich so was anzutun.«
    »Ihr Mantel und ihre Schuhe liegen bestimmt unterm Schnee«, meinte Petre, als ihn Schuster mit scharfem Blick zum Schweigen brachte. Dann faltete der Sachse die Hände und sprach: »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name ... « Alle fielen murmelnd in das Gebet ein und blickten betreten in den glitzernden Schnee, lange über das Amen hinaus.
    Ich konnte den Blick nicht abwenden. Ich fühlte keine Trauer.
    Nur einen unendlichen, grenzenlosen Schmerz, als zerreiße mein Herz. Dieser Schmerz war lautlos, und doch gellte er mir in den Ohren. Ihm einen Namen zu geben, dafür war ich zu jung. Erst viele Jahre später sollte ich verstehen, was ich in dieser Weihnacht gehört hatte, war der Todesschrei der Liebe.
    Es wurde kalt. Die Prozession zur Madonna vom Ewigen Trost war beendet, ohne dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Doch man musste handeln. Istvan Kallay fühlte sich kräftig genug, den Weg zur Kapelle anzutreten, um die Madonnenstatue zu holen. Petre, der eben noch an Luftnot zu ersticken drohte, setzte frische Energien frei und erklärte sich bereit, den Ungarn zu begleiten.
    »Du fehlst uns zum Trio«, wandte sich Istvan an mich, in Anspielung an unsere gemeinsame Fahrt nach Kronauburg und den Besuch bei Capitan Patrascu. »Komm mit!« Großvater Ilja unterstützte Istvan. »Pavel, geh mit. Das hier ist nichts für einen Jungen.«
    »Mein Platz ist hier.«
    »Meine Beine tun's noch.« Andreas Schuster ergriff die Wolldecken, mit denen man die Madonnenfigur einzupacken gedachte. Dann stieg er mit Istvan und Petre hinauf zur Kapelle, deren spitzer Turm gegen die tief stehende Sonne als Schattenriss in den Himmel ragte.
    Ich schloss die Augen, so wie ich es bei Buba erlebt hatte.
    Ich schaute nach oben. Der andere Blick war einfach. Das Bild kam ohne mein Zutun. Ich sah. Aber ich sah nicht meine sehnlich vermisste Freundin. Ich sah ihren Onkel. Vor meinem inneren Auge stand Dimitru in seiner Bibliothek, nahm ein paar Schritte Anlauf und schwang sich in den Handstand, die dürren Beine gestützt an ein Bücherregal. Dann hörte ich den Satz: »Die Dinge zeigen sich dem, der die Welt auf den Kopf stellt.«
    Ich öffnete die Augen. Ich beugte mein Haupt und stieß den Kopf in den Schnee. Während die Männer wähnten, ich könne den Anblick der Selbstmörderin nicht ertragen, wich der Schmerz meiner Empfindungen einer kühlen Klarheit des Denkens. Ich richtete mich auf und schaute zu den ScherbanBrüdern.
    »Könnt ihr mir helfen? Wir müssen graben.«
    »Du willst doch nicht etwa ihre Schuhe und ihren Mantel suchen ?«, fragte Rasim. »Das hat Zeit bis zum Frühjahr.«
    Ich antwortete nicht. Ich schaufelte im Schnee, die Hände blutig zerschnitten vom Eis. Einige schnappten sich armdicke Äste, die der Sturm aus den Bäumen gebrochen hatte, und benutzen sie als Grabwerkzeuge. Bald darauf halfen alle, den Schnee beiseitezuräumen. Die Schürferei erlaubte den Männern, den Blick von der halb nackten Frau in dem dünnen Kleid abzuwenden. Niemand wusste, wonach er eigentlich suchte. Außer mir. Wenn eine Frau endgültig Feierabend mache, das hatte der alte Kommissar Patrascu gesagt, so könne man darauf wetten, dass die Flasche zum Mutantrinken verkorkt sei. Doch wenn man eine Flasche finden würde, in der kein Korken steckte, wie ich befürchtete? Dann wäre Angela Maria Barbulescu in ihrer letzten Stunde nicht allein gewesen. Dann hätte sie nicht selber Hand an sich gelegt. Meine Befürchtung trat nicht ein. Wir fanden keine unverkorkte Schnapsflasche und auch keine verkorkte.
    »Hier! Hier ist was!« Hermann Schuster zog etwas aus dem Schnee, was unten am Stamm der Buche lehnte. Hermann hielt seinen Fund hoch. Ein Bild in mattgoldenem Holzrahmen mit zersplitterter Glasscheibe. »Wer ist das? Kennt ihr den?«
    »Könnte einer von diesen Parteibonzen aus der Hauptstadt sein«, mutmaßte Karl Koch. »So wie er ausschaut.« Koch blickte nach oben. »Ich schätze, wegen dem hat sie Schluss gemacht. Ich sag euch: Sie war verrückt. Wer sich den Strick nimmt, in so einem Kleid, der ist irre. Kein Wunder, dass so ein schnieker Kerl von einer wie der Barbu nichts wollte.«
    Karl Koch schrammte zwar die Wahrheit, doch er irrte.

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