Wie die Tiere
Gefängnismobiliar nachgedacht? Ob du es glaubst oder nicht, über sein Leben. Weil Frühpensionsansuchen, das ist eine verteufelte Angelegenheit, und wenn du da nicht wahnsinnig aufpasse, denkst du auf einmal über dein Leben nach.
Gut, dass man ihn dann endlich zum Amtsarzt hineingerufen hat, weil diese allgemeine Grübelei, das bringt sowieso nichts, wenn du mich fragst. Der Brenner hat kurz die Luft angehalten und die Muskeln angespannt, bevor er in das Untersuchungszimmer hineinspaziert ist. Weil natürlich, Amtsarzt, das war etwas, wo sogar die brutalsten Typen bei der Kripo zugegeben haben: Ich furchte mich ein bisschen.
Du darfst eines nicht vergessen. Arzt und Polizei, das ist eine spezielle Mischung. Da gibt es in den Fußgängerzonen nicht nur die Tierspendensammler, sondern immer auch diese Straßenmusiker, von denen rede ich aber nicht, und manchmal die Tänzer, von denen rede ich auch nicht, sondern ich rede von den anderen. Von diesen Bronzestatuen, die schaust du an, quasi Kulturgut, und auf einmal bewegt die Statue sich! Weil es steckt ein Mensch hinter dem Bronze-Anstrich, und ich weiß nicht warum, Buddhismus oder Meditation, aber der kann die ganze Zeit so ruhig stehen, unglaublich!
Und das Ärztliche und das Staatliche in einer Person, das hat ganz einen ähnlichen Effekt. Der steht da und schaut dich an, und du möchtest am liebsten hineinzwicken, ob nicht doch ein menschliches Wesen dahinter steckt.
Und dass in Wien der Amtsarzt so nett ist, wie das Tiroler Mädchen geglaubt hat, darüber hat er sich schon im Wartezimmer keine Illusionen mehr gemacht. Er hat schon noch gehofft, dass er hier nicht so einen handgeschnitzten Bergführer in Doktorgestalt erwischt, aber wie soll ich sagen. Dass ihm der Wiener so ohne weiteres den Stempel für die Frühpension gibt, da hat man von Tirol aus leichter optimistisch sein können als vom Wartezimmer aus, wo ihn gerade die Weltkriegssprechanlage aufgerufen hat.
Am liebsten wäre er gleich umgedreht und zurück nach Innsbruck ins SoHo. Ich muss ehrlich sagen, das wäre der beste Entschluss in seinem ganzen Leben gewesen, da hätte er sich viel erspart. Andererseits, wenn du dir immer alles ersparst, erlebst du auch nichts. Und wie der Brenner jetzt doch in das Untersuchungszimmer hinein ist, hat er wirklich einmal eine Überraschung erlebt. Mit allem hat er gerechnet, aber nicht damit, dass der Amtsarzt aussieht wie seine eigene Großmutter.
Ärztinnen heute natürlich überhaupt keine Seltenheit mehr, aber in dieser Generation war das noch etwas anderes, und dann noch Amtsärztin, obwohl sie schon längst in Pension gehört hätte, das hat dem Brenner nicht eingeleuchtet. Aber am meisten hat ihn verwirrt, dass die genau die gleiche Haartracht wie seine Großmutter gehabt hat.
Weil du darfst eines nicht vergessen. Von seiner Großmutter hat der Brenner das Kopfweh geerbt. Die hat sich ihr Leben lang die empfindliche Kopfhälfte mit Franzbranntwein eingeschmiert, und ob du es glaubst oder nicht, im Alter ist sie dann nur auf einer Seite weiß geworden. Das musst du dir einmal vorstellen, genau bis zur Mitte weiß und ab der Mitte schwarz durch die jahrzehntelange Franzbranntweinbehandlung.
Damals haben sich die alten Frauen die Haare hinten zu einem Knoten zusammengedreht, wenn du mich fragst, hat das gut ausgesehen, aber dadurch liegen die Haare natürlich ganz eng am Kopf an, jetzt war es umso auffälliger, genau in der Mitte hat es sich geteilt, obwohl sie keinen Scheitel gehabt hat. Links nur noch ein paar schwarze Fäden im Weiß, rechts erst ein paar weiße Fäden im Schwarz, und dazu das magere Gesicht mit den zwei steilen Wangenfalten, alte Indianerin nichts dagegen.
Aber sooft der Brenner darüber nachgedacht hat, es ist ihm nicht mehr eingefallen, ob die Haare auf der Franzbranntweinseite schwarz geblieben sind oder auf der anderen Seite. Nur dass sie immer schlecht aufgelegt war, wenn sie nach Franzbranntwein gestunken hat, das hat er heute noch gewusst.
Die Großmutter war jetzt schon über dreißig Jahre tot, der Brenner hat ihr Begräbnis versäumt, weil er mit seinem Moped zwei Wochen nach Italien gefahren ist. Das hat er auffrisiert, dass es 90 gegangen ist, aber zum Begräbnis ist er trotzdem drei Tage zu spät gekommen, so geht es im Leben. Und jetzt sieht er zum ersten Mal einen Menschen mit dem gleichen Haarfehler, ausgerechnet die Amtsärztin.
Für den Brenner war das ein Schock Er hat nicht mehr gewusst, ob er seinen einzigen
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