Wie die Welt endet: Roman (German Edition)
wir weiter, bis wir von der Straße aus nicht mehr zu sehen waren.
Nachdem wir am Bahndamm unser Lager aufgeschlagen hatten, setzten wir uns in einem engen Kreis zusammen. Inzwischen dämmerte es bereits. Alle waren schweigsam, ganz mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. In der Ferne heulte eine Sirene.
» Wir müssen uns möglichst von den Städten fernhalten«, bemerkte Jeannie schließlich. » Diese Sippe, mit der wir neulich kampiert haben, war für das Leben in der Wildnis viel besser gerüstet als wir. Wir brauchen bessere Überlebenstechniken.«
» Aber das ist nicht unser Ding«, entgegnete Cortez. » Wir arbeiten doch in den Städten. Den Eichhörnchen können wir keine Energie verkaufen.«
» Ich glaube, das läuft sowieso nicht mehr lange. Unsere Kontakte werden immer weniger. Vermutlich hat Jeannie recht«, sagte Colin.
» Es gibt jetzt zwei Welten, und in der einen sind wir nicht mehr zu Hause«, erklärte ich. Ich spürte ein flaues Gefühl im Magen. Nein, jene Welt war wirklich nicht mehr unsere Welt.
» Wir dürfen nicht mehr unsere gesamten Lebensmittel im Supermarkt kaufen«, sagte Jeannie. » Mit dem Geld, das wir verdienen, müssen wir uns Waffen und Angelzeug besorgen, nicht Handy-Einheiten.«
» Ich bezahle doch nichts für das Handy«, sagte ich.
» Ich weiß«, antwortete Jeannie. » Ich meine bloß, dass wir uns abhärten müssen.«
Abhärten. Schon das Wort konnte ich nicht leiden. Aber Jeannie hatte recht: Wenn wir uns nicht änderten, würden wir umkommen.
Es war ein langer, scheußlicher Tag gewesen. Als es richtig dunkel war, zogen wir uns in unsere Zelte zurück.
Ich fühlte mich mutterseelenallein, obwohl meine ganze Sippe in der Nähe war. In einem Zelt im Wald zu schlafen war so anders, als in der Stadt im Zelt zu übernachten. Die Wildnis war wie ein fremdes Wesen, wie eine schonungslose, schweigende Mahnung, dass uns niemand beschützte, dass wir in einer unbarmherzigen Welt lebten, der es völlig egal war, wenn wir heute Nacht alle starben. Das Grillenzirpen draußen klang metallisch. Ich hätte so furchtbar gerne Sophia angerufen.
Ich warf meine Decke fort und kroch nach draußen. Zum Spazierengehen war es zu dunkel, daher stellte ich mich mitten in unser kleines Lager und starrte durch die dunklen Baumwipfel zu den Sternen hoch.
» Ich hätte gar keine Lust mehr, jetzt da draußen neue Frauen kennenzulernen.« Ich schrak zusammen. Drei Meter von mir entfernt saß Cortez auf einem umgestürzten Baumstamm.
» Ja, es ist anstrengend«, antwortete ich, obwohl ich dieses Thema eigentlich nicht mit Cortez diskutieren wollte. Doch ich trat neben ihn, damit unser Gespräch die anderen nicht aufweckte.
» Nicht nur das«, sagte Cortez. » Ich hab außerdem den Fluch des weißen Mannes.« Er hielt die Hand hoch, und in der Dunkelheit ahnte ich mehr, als dass ich es sah, wie er mit zwei Fingern eine Länge von acht Zentimetern anzeigte. Ich kapierte nicht. » Immer wenn ich zum ersten Mal mit einer Frau schlafen wollte, habe ich das große Flattern gekriegt. Ich fürchtete, dass sie heimlich über mich lachen würde, sobald sie ihn sah.«
Da ging mir ein Licht auf. Ich suchte nach Worten. » Mensch«, stammelte ich, » das kann ich mir gut vorstellen, dass einem da die Nerven blank liegen.« Hatte ich Cortez richtig verstanden? War es möglich, dass er mir etwas so Persönliches anvertraute? Ich selbst hätte es niemandem verraten, nicht einmal Colin, wenn ich einen kleinen Pimmel gehabt hätte.
Und dafür hatte ich Cortez plötzlich richtig gern. Er würde wahrscheinlich sein Leben für mich riskieren, wenn es darauf ankam. Er gehörte zu meiner Sippe. Ich sollte ihm ebenso unverkrampft gegenübertreten können wie er mir.
» Tja– ach, wir haben alle unser Kreuz zu tragen«, sagte er, stand auf und wischte sich den Hosenboden ab. » Versuch doch, ein bisschen zu schlafen.«
» Cortez«, sagte ich und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie fest. » War gut, mit dir zu sprechen, Mann.«
In aller Frühe, als noch ein grauer Schleier über der Welt lag, stand ich auf. Die anderen schliefen noch. Ich setzte mich auf den Boden und blätterte mein Fotoalbum durch, betrachtete Kinderfotos von mir. Mom und Dad in Disney World in den » Rotierenden Teetassen«, sonnenverbrannt, lachend. Mein Schwesterchen auf dem Rasen vor dem Haus in ihrer violetten Majorette-Uniform. Ich mit Zahnlücke am Abschlag beim T-Ball.
Eine Frau hetzte auf den Gleisen an unserem
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