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Wie du Ihr

Wie du Ihr

Titel: Wie du Ihr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Beckett
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Metallständer mit voller Infusionsflasche ins Zimmer gerollt. Die Nadel hatte sie bereits aus der sterilen Verpackung genommen und hielt sie mit ihren Handschuhhänden hoch. Bestimmt auf Anweisung des Arztes. Was sonst? Mein Täuschungsmanöver am Vorabend hatte ihn nicht überzeugt. Vielleicht hat er die ganze Zeit Bescheid gewusst. Ich konnte nicht feststellen, was in der Infusion war, und fragen konnte ich auch nicht. Aber ich konnte es mir denken. Bei dem Gedanken, was in dieser Flüssigkeit sein könnte, brannten mir die Augen und mein Mund wurde trocken. Ich wollte mich wehren. Ich wollte um mich schlagen. Ich wollte »Nein!« schreien. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis meine Fluchtgedanken ertränkt wurden. Ich warf einen raschen Blick auf die Schwester. Was würde sie tun, wenn ich floh? Würde sie Alarm schlagen oder eher selbst die Verfolgung aufnehmen? Sie würde mir hinterherlaufen, da war ich mir sicher. Es war ihr Job, ihr Wagen, ihr Winterurlaub.
    Ein Lehrer hat mir mal gesagt, dass die wichtigsten Entscheidungen im Leben in dem Moment, wenn man sie trifft, fatalerweise oft gar nicht so wichtig wirken. Bei dieser war es anders. Es ging um Leben oder Tod. So einfach, so klar, so wichtig. Und mir blieb nur eine Sekunde, um mich zu entscheiden. In meinem Kopf flog eine Münze hoch und ich sah zu, wie sie durch die Luft wirbelte. Ich würde abwarten. Ein gewaltiges Risiko, aber meine beste Chance.
    Ich versuchte, die Panik hinunterzuschlucken. Die Schwester nahm meine Hand. Ich hatte das Gefühl, dass meine Hand in ihrer kalten Hand verbrannte, aber sie schien nichts zu merken. Sie tupfte die Vene auf meinem Handrücken ab und schob die erste Nadel hinein. Es war nur eine Kochsalzlösung, aber ich zuckte trotzdem zusammen. Weil ich wusste, dass die kühle Flüssigkeit dem Vollstrecker den Weg ebnete. Ich sagte mir, dass das Mittel nur tröpfchenweise in meinen Körper gelangte und deshalb langsam wirken würde. Eine verzweifelte Hoffnung, nicht mehr. Ich begann zu zählen. Zwei Minuten. Ich gab ihm zwei Minuten. Einhundertzwanzig stille Sekunden musste ich durchhalten. Mehr nicht. Ich schwor es mir. Beim Überleben geht es nur darum, seine Versprechen zu halten. Die zweite Nadel. Sie überprüfte den Beutel und ließ einen Tropfen laufen. Einen Tropfen womit? Dann verband sie ihn mit dem Schlauch und der Countdown begann.
    Meine Fantasie spielte mir einen Streich. Ich fühlte mich plötzlich schwer und schwindlig. Ich war gelähmt vor Angst. Die Schwester ließ sich Zeit. Sie räumte alles so langsam weg, als hätte sie auf ihre nächste Aufgabe noch weniger Lust. Ich spürte, wie mein Fuß zu zittern begann. Ich spannte mein Bein so sehr an, dass ich das Gefühl hatte, meine Muskeln würden jeden Moment reißen, und hoffte, dass sie nichts bemerkte. Ich zählte.
    Bei fünfundsiebzig überprüfte sie die Tropfgeschwindigkeit. Ich schloss die Augen. Bei fünfundachtzig hatte sie sich umgedreht. Sie ging. Bei fünfundneunzig setzte ich mich auf, riss das transparente Pflaster von meinem Handgelenk ab und zog die Nadel heraus. Dabei zählte ich immer noch weiter. Als wäre die Zahlenreihe ein Weg, der mich wieder in die Normalität zurückführen würde.
    Sie hatten mir meine Kleider weggenommen, doch der alte Mr Smythe im Zimmer nebenan durfte sein ausgeblichenes Jackett tragen. Es hing an der Stuhllehne neben seinem Bett und roch nach Haaröl, Schuppen und einem Leben, in dem nichts mehr wichtig ist. Ich schlüpfte hastig in die Jacke und ging noch mal zu meinem Bett zurück, um mir das Kopfkissenseil zu holen. Ich hätte für immer von hier verschwinden können. Besiegt, aber am Leben. Doch das ging nicht. Auch das habe ich mir geschworen. Ich kann nicht mein Leben lang immer versagen, wenn es darauf ankommt.
    Zum Glück war die Schwester so früh am Morgen zu mir gekommen. Auf der Station war es noch dunkel und still und es war leicht, sich davonzuschleichen. Ich ging zielstrebig in den Heizungsraum, wo ich mich hinsetzen und über die neue Lage nachdenken wollte. Und darüber, was ich als Nächstes tun würde. Das war das Schwerste. Hier zu sitzen und zu wissen, wie einfach es wäre, einfach wegzugehen. Zurückzukehren zu den Menschen, an die ich nicht denken will, weil es so wehtut. Wenn ich die Gesichter von Mum und Duncan und den anderen in meinen Kopf ließe, hätte sich meine Entschlossenheit längst in Luft aufgelöst. In Gedanken rechtfertigte ich meine Schwäche und stellte

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