Wie du Ihr
noch eine weitere halbe Stunde um sie herum, während wir auf irgendwelche Lebenszeichen aus dem Inneren lauschten. Jonathan erklärte sich bereit, als Erster hineinzugehen und nachzusehen. Wir hatten abgemacht, dass er den Schrei einer Eule imitieren würde, wenn die Luft rein war. Das passte zwar nicht wirklich, weil es helllichter Tag war, aber uns fiel nichts Besseres ein. Am Ende war es sowieso egal, weil er stattdessen lautstark »Diese Arschlöcher!« brüllte. Wir überlegten gerade, ob das nun ebenfalls bedeutete, dass die Luft rein war, als er auf dem Balkon auftauchte.
»Wo bleibt ihr denn?«, rief er ungeduldig.
»Wir warten immer noch auf den verabredeten Eulenruf«, erwiderte Rebecca.
»Scheiß auf die Eule! Kommt lieber rein und seht euch an, was diese Arschlöcher gemacht haben.«
Sie hatten unsere Rucksäcke durchwühlt und das Essen, die Schlafsäcke und fast alle unsere Kleider mitgenommen. Der Rest lag kreuz und quer auf dem Boden verstreut.
»Jetzt sind wir echt geliefert«, sagte ich, obwohl ich genau wusste, dass uns das auch nicht weiterhalf. Keiner sagte etwas.
Wenn man sich plötzlich in einer lebensbedrohlichen Situation befindet, kämpfen im Gehirn zwei Seiten gegeneinander. Die eine Seite will nicht aufgeben, ganz egal, wie aussichtslos die Lage auch ist. Und die andere Seite resigniert. Diese beiden Seiten sind immer da und das Entscheidende ist, welche Seite gerade die stärkere ist. Wir standen wie gelähmt inmitten unserer wenigen Habseligkeiten und in diesem Moment gewann der Teil, der aufgeben wollte, die Oberhand. Wir hockten niedergeschlagen herum und unterhielten uns darüber, wie schrecklich alles war.
Doch dann geschah plötzlich etwas zwischen Jonathan und Rebecca. Wenn der eine etwas vorschlug, sagte der andere sofort etwas dagegen. Ein Machtkampf. Jonathan wollte in der Hütte bleiben. Er fand es zu gefährlich, ohne Ausrüstung loszuziehen, und glaubte, dass die Bergwacht als Erstes in der Hütte nach uns suchen würde. Aber wahrscheinlich beharrte er nur auf diesem Standpunkt, weil Rebecca unbedingt gehen wollte.
»Auf die Rettungsleute können wir uns nicht verlassen«, widersprach Rebecca. »Falls es überhaupt noch einen Rettungsdienst gibt, dann ist er wahrscheinlich vollauf damit beschäftigt, Leute aus den Trümmern zu bergen. Wenn überhaupt jemand hierherkommt, dann diese Schweine mit ihren Gewehren.«
»Ach, vorhin hast du aber noch was ganz anderes erzählt.«
»Ich hatte jetzt ja auch genug Zeit, darüber nachzudenken.«
»Aber du hattest bestimmt recht. Die haben sich längst aus dem Staub gemacht. Stell dir mal vor, wie du reagieren würdest, wenn du aus Versehen jemanden umgebracht hättest.«
»Es war nicht aus Versehen.« Dafür, dass sie nicht dabei war, klang Rebecca sehr sicher. »Das sind Mörder.«
»Und du glaubst allen Ernstes, dass wir hier weggehen können, ohne uns zu verlaufen, zu verhungern oder zu erfrieren?«, fragte Jonathan und sah sie herausfordernd an.
»Ja.«
»Dann geh doch.«
»Ihr kommt alle mit.«
»Vergiss es.«
»Du kannst nicht für die anderen sprechen.«
Ich wollte das nicht entscheiden. Und ich wollte nicht, dass sie sich stritten. Ich wollte, dass es nur eine richtige Wahl gab, die mir jemand erklärte. Rebecca tat ihr Bestes.
»Wir werden uns nicht verlaufen. Wir gehen nach Osten. Der Morgensonne entgegen. Wir müssen nur durch zwei Täler, dann haben wir es geschafft. Überlegt doch mal. Es hat auch nicht so lange gedauert hierherzukommen. Und dieses Mal müssen wir nicht einmal unsere Rucksäcke tragen. Wir brauchen maximal zwei Tage. Wir werden nicht verhungern. Wenn es sein muss, kommt man wochenlang ohne Nahrung aus. Wir brauchen nur Wasser und davon gibt es hier oben genug. Und erfrieren werden wir auch nicht. Sie haben doch die wasserdichten Hüllen hiergelassen. Jonathan, gib mir mal das blöde Messer, das du immer mit dir herumschleppst.«
»Was hast du vor? Willst du uns was zum Abendessen jagen?«
»Gib's mir einfach.« Rebecca klappte das Messer auf und nach drei sauberen Schnitten wurde aus der Hülle ein Regenumhang. »Lasst uns gehen. Was sagt ihr zwei denn dazu?«
Ich wollte ihr glauben, weil es so viel besser war, als nichts zu glauben. Außerdem hatte ich mehr Angst davor, in der Hütte zu bleiben, als davor, mich durch die Berge zu kämpfen.
»Ich finde auch, dass es klüger ist, von hier zu verschwinden.«
»Ich auch«, stimmte Lisa zu, obwohl sie nicht besonders überzeugt klang.
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