Wie du Ihr
Jonathan sah mich an wie einen Verräter.
»Na schön. Ich hab euch gewarnt«, murmelte er.
»Dann ist also alles klar?«, fragte Rebecca und blickte ihm in die Augen.
»Du bist der Boss«, erklärte er achselzuckend.
»Gut. Dann suchen wir jetzt alles zusammen, was wir irgendwie gebrauchen können, und packen es in diesen Beutel hier. Wir nehmen Lisas Rucksack. Der ist am kleinsten. Marko, bringst du uns zu der Stelle, wo es passiert ist?«
»Warum das denn?«, fragte Jonathan. »Ich dachte, du willst so schnell wie möglich von hier weg.«
»Ich will ihre Leiche finden.«
»Wozu denn? Das macht sie auch nicht wieder lebendig.« Ich glaube nicht, dass ihm klar war, was er da eigentlich sagte. Aber er begriff es spätestens, als Rebeccas Faust seine Nase traf. Es war kein harmloser warnender Hieb, sondern ein kraftvoller Schlag. Als er sich aufrichtete, blutete er aus der Nase.
»Was soll das denn schon wieder?«, fragte Jonathan und sah uns fragend an.
»Keine Witze über sie. Verstanden?«, antwortete Rebecca.
»Sie hat recht«, fügte Lisa hinzu. »Wir müssen ihre Leiche finden. Für ihre Familie.«
»Außerdem ist es ein Beweis«, sagte ich und bereute es gleich wieder.
»Na schön. Tut mir leid. Ich mach alles, was du sagst.«
Die Stimmung war angespannt, während wir die wenigen warmen Sachen und die Schokoriegel, die Jonathan in einem Strumpf versteckt hatte, zusammenpackten. In der Luft lagen die Spannungen zwischen Jonathan und Rebecca, aber vor allem Ms Jenkins, deren Namen zu erwähnen wir jetzt schon vermieden.
Ich führte sie zu der Stelle zurück und blendete alle Gefühle aus. Ich versuchte, so gleichmütig wie die Pflanzen und Bäume um mich herum zu sein. Sie konnten Schneestürme, Erdbeben, Überschwemmungen und Brände überstehen. Unterwegs blieben wir zweimal stehen, weil einer von uns dachte, er hätte jemanden gehört, aber es war jedes Mal falscher Alarm. Als wir schließlich an der Stelle anlangten, wo es passiert war, musste ich zweimal um die Biegung gehen, um ganz sicher zu sein. Die Stelle sah so unbedeutend und gewöhnlich aus, als wäre hier niemals etwas vorgefallen. Nichts von Bedeutung.
Aber es war die Stelle und es war der Baum. Jonathan entdeckte im Gras einen Stein mit getrocknetem Blut. Er lag auf seiner ausgestreckten Hand und wir starrten ihn schweigend an, ohne dass ihn jemand berührte. Schließlich ließ Jonathan den Stein wieder fallen. Und dann sah ich alles wieder vor mir: Wie Ms Jenkins noch quicklebendig war und müde und stinksauer auf diese nervigen Typen. Und dann ihr Tod, einfach so, aus dem Nichts.
»Sie haben sie irgendwo versteckt«, sagte Rebecca. Jetzt, wo wir hier waren, klang ihre Stimme plötzlich nicht mehr so selbstsicher. »Bestimmt ganz in der Nähe. Hat jemand eine Idee?«
»Da unten ist das Gestrüpp am dichtesten«, sagte ich.
»Aber da drüben wäre sie weiter weg vom Weg«, warf Lisa ein.
»Und was ist mit dem Geröll?« Jonathan deutete nach vorn. »Da würde ich sie verstecken. Dann kann man sie später wieder ausgraben und es sieht so aus, als wäre sie dadurch umgekommen.«
»Wir teilen uns auf«, sagte Rebecca. »Ruft, wenn ihr was findet.«
»Ich gehe auf keinen Fall allein«, sagte Lisa. »Ich komme mit dir.«
Wir suchten. Ich kletterte den Abhang hinunter. Ich wusste, wie wichtig es war, sie zu finden, und hoffte gleichzeitig, dass wir sie nicht fanden. Ich wusste nicht, ob ich das aushalten würde. Ich war sowieso kurz davor zusammenzubrechen. Wenig später hörte ich Rebeccas Stimme von der anderen Seite der Anhöhe. Auf dem Weg zu ihr traf ich Jonathan. Ich sah, wie er tief Luft holte und sich innerlich auf den Anblick gefasst machte.
Eigentlich dachte ich, dass es für mich am leichtesten sein würde. Ich hatte sie schon gesehen. Ich war dabei, als es geschah. Trotzdem war ich der Erste, der sich Halt suchend an einem Baum abstützte, auf die Knie sank und sich übergab. Die anderen starrten fassungslos auf den toten Körper vor ihnen. Es war, als könnten sie den Blick erst abwenden, wenn sie es wirklich begriffen hatten. Das Problem ist nur, dass man es nie wirklich begreifen kann.
Sie hatten sie in eine Mulde unter den Wurzeln eines umgestürzten Baumes geschleppt. Über der Öffnung lag ein einziger Farnwedel. Ein halbherziger, hektischer Versuch, sie zu verstecken. An ihrer Schläfe klebten Haare mit geronnenem Blut.
»Scheiße«, stöhnte Jonathan tonlos. Rebecca trat zu ihm und legte den Arm um ihn. Ich
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