Wie ein einziger Tag
Mond, den Wind in den Baumkronen, die merklich kühlere Luft.
Dann schaute sie Noah an. Die Narbe an seinem Kinn war von der Seite deutlich sichtbar. Sie fragte sich, ob sie vom Krieg her stammte und ob er überhaupt im Krieg verwundet worden war. Er hatte es nicht erwähnt, und sie hatte keine Fragen gestellt, wohl deshalb, weil sie sich nicht vorstellen mochte, daß er Schmerzen gelitten hatte.
»Ich gehe jetzt«, sagte sie schließlich und reichte ihm die Decke.
Noah nickte und stand wortlos auf. Er trug die Decke zurück und begleitete sie zu ihrem Wagen. Unter ihren Schritten raschelte das Herbstlaub. Während er ihr die Tür öffnete, begann sie das Hemd aufzuknöpfen, das er ihr geliehen hatte. Er schüttelte den Kopf.
»Behalt es«, sagte er. »Ich möchte, daß du es behältst.«
Sie fragte nicht nach dem Grund, weil sie es gern behalten wollte. Sie knöpfte es wieder bis oben zu und verschränkte die Arme vor der Brust, um nicht zu frieren. Und während sie so dastand, mußte sie daran denken, wie sie nach einer Tanzveranstaltung auf ihrer Veranda gestanden und auf einen Kuß gewartet hatte.
»Danke, daß du gekommen bist«, sagte er. »Es war ein unglaublich schöner Abend für mich.«
»Für mich auch«, antwortete sie. Er nahm all seinen Mut zusammen. »Sehen wir uns morgen wieder?« Eine simple Frage. Und sie wußte genau, wie die Antwort lauten müßte, vor allem, wenn sie Probleme vermeiden wollte. »Besser nicht«, hätte sie sagen müssen, zwei Worte nur, und alles wäre hier und jetzt zu Ende gewesen. Doch sie zögerte mit der Antwort.
Sie mußte eine Wahl treffen, die ihr unendlich schwer fiel. Warum brachte sie die beiden Worte nicht über die Lippen? Sie wußte es nicht. Aber als sie in seine Augen schaute, um die Antwort darin zu finden, sah sie den Mann, in den sie sich einst verliebt hatte, und plötzlich wußte sie, was sie sagen mußte.
»Ja, gem.«
Noah war überrascht. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Er hätte sie am liebsten in seine Arme genommen, doch er hielt sich zurück. »Kannst du gegen Mittag hier sein?«
»Sicher. Was hast du vor?«
»Du wirst schon sehen«, erwiderte er. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
»War ich schon mal dort?«
»Nein, aber es ist etwas ganz Besonderes.«
»Und wo?«
»Es ist eine Überraschung.«
»Wird es mir dort gefallen?«
»Da bin ich ganz sicher«, sagte er.
Sie wandte sich ab, bevor er versuchen konnte, sie zu küssen. Sie wußte zwar nicht, ob er es versucht hätte, wußte nur, daß es ihr schwergefallen wäre, sich dagegen zu wehren. Und bei all den verwirrenden Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, wäre das jetzt zuviel für sie gewesen. Sie ließ sich hinter das Lenkrad gleiten und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er schlug die Tür für sie zu, und sie drehte den Zündschlüssel. Als der Motor ansprang, kurbelte sie das Fenster ein wenig herunter.
»Bis morgen«, sagte sie, und der Mond spiegelte sich in ihren Augen.
Noah winkte, während sie ein Stück zurücksetzte und dann langsam die Einfahrt hinunterfuhr. Er sah dem Wagen nach, bis die Lichter hinter den fernen Eichen verschwunden und die Motorgeräusche verhallt waren. Clem kam herbeigehinkt, und Noah kniete nieder, um sie zu streicheln, besonders an der Stelle am Hals, die sie mit der Hinterpfote nicht mehr erreichen konnte. Nach einem letzten Blick zur Straße ging er langsam zurück auf die Veranda Er nahm wieder im Schaukelstuhl Platz und ließ den ganzen Abend noch einmal vor seinem inneren Auge vorbeiwandern. Jede Szene, jedes gesprochene Wort tauchte in seiner Erinnerung auf, spulte sich wie in Zeitlupe vor ihm ab. Er mochte weder zur Gitarre greifen noch ein Buch zur Hand nehmen. Er wußte nicht mehr, was er fühlte.
»Sie ist verlobt«, flüsterte er sich zu und versank dann in Schweigen. Kein Laut war zu hören, nur das leichte Knarren des Schaukelstuhls. Und ab und zu schaute Clem nach ihm, als wollte sie fragen: »Ist alles in Ordnung?«
Und irgendwann in dieser klaren Oktobernacht überkam Noah eine unbändige Sehnsucht, eine Sehnsucht, die schlimmer war als körperlicher Schmerz. Hätte ihn jemand beobachtet, so hätte er geglaubt, einen alten Mann vor sich zu haben, der in wenigen Stunden um Jahrzehnte gealtert war. Einen Mann, der gebeugt in seinem Schaukelstuhl saß, der versuchte, die Tränen hinter seinen Händen zu verbergen. Tränen, die er nicht zurückhalten konnte.
Anrufe
Lon legte den Hörer auf die Gabel
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