Wie ein einziger Tag
recht.
Noah war noch vor Sonnenaufgang auf den Beinen, zog sich schnell an, die Jeans vom Vorabend, Unterhemd, frisch gewaschenes Flanellhemd, blaue Strickjacke und Stiefel. Er putzte sich die Zähne, bevor er nach unten ging, trank ein Glas kalte Milch in der Küche und steckte sich auf dem Weg zur Tür zwei Brötchen ein. Nachdem er sich von Clem zur Begrüßung zweimal übers Gesicht hatte lecken lassen, ging er zum Steg, wo er sein Kajak festgemacht hatte.
Sein altes, mit Flecken übersätes Kajak hing an zwei rostigen Haken, die dicht über der Wasserlinie am Steg befestigt waren, damit die Krebse sich nicht daran festklammern konnten. Er hob es vorsichtig hoch und stellte es auf den Holzplanken ab. Er überprüfte es rasch und trug es dann zur Böschung. Mit einer geschickten, wohl hundertmal schon erprobten Bewegung ließ er es zu Wasser, sprang hinein und steuerte es flußaufwärts.
Die Luft war frisch, fast kalt, der Himmel ein einziger Dunstschleier unterschiedlicher Farben: Schwarz, wie ein Bergmassiv, direkt über ihm, dann Blau in unendlich vielen heller werdenden Nuancen, bis es am Horizont in Grau überging. Er holte mehrmals tief Luft, sog den Duft der Kiefern und den Geruch des Brackwassers in seine Lungen, genoß den Zauber des Flusses, der seine Muskeln lockerte, seinen Körper wärmte und seinen Kopf frei machte.
Das war es gewesen, was ihm in den Jahren im Norden am meisten gefehlt hatte. Wegen der langen Arbeitsstunden war ihm nur wenig Freizeit geblieben. Zelten, Wandern, Paddeln auf Flüssen, Ausgehen, Arbeiten… irgend etwas mußte zu kurz kommen. Er hatte die Landschaft von New Jersey vor allem zu Fuß kennengelernt und war in den vierzehn Jahren nicht ein einziges Mal im Kajak oder Kanu unterwegs gewesen. Das aber hatte er nach seiner Rückkehr in die Heimat kräftig nachgeholt. Die Morgendämmerung auf dem Wasser zu erleben war für ihn beinahe etwas Mystisches, und er fuhr jetzt fast jeden Morgen hinaus. Ganz gleich ob es warm oder kalt, klar oder trübe war, er paddelte im Gleichklang mit der Musik in seinem Kopf und genoß die Nähe zur Natur. Er beobachtete eine Schildkrötenfamilie auf einem schwimmenden Baumstamm, sah, wie ein Reiher zum Flug ansetzte, dicht über dem Wasser dahinglitt, bis er im silbrigen Zwielicht, das dem Sonnenaufgang vorausging, verschwunden war.
Er steuerte auf die Mitte des Flusses zu, von wo er zusah, wie der rötliche Schimmer auf der Wasserfläche sich ausbreitete. Er paddelte nun nicht mehr so kräftig wie vorher, gerade genug, um auf der Stelle bleiben zu können, und wartete, bis das erste Licht durch die Bäume drang. Er liebte diesen Augenblick des Tagesbeginns, diesen dramatischen Moment, diese Neugehurt der Welt. Dann paddelte er wieder aus vollen Kräften, kämpfte gegen die verbliebene Anspannung an, bereitete sich auf den Tag vor.
Währenddessen wirbelten Fragen in seinem Kopf umher wie Wassertropfen in einer Bratpfanne. Er dachte an Lon, überlegte, was für ein Typ Mann er wohl war und wie die Beziehung zwischen ihm und Allie sein mochte. Vor allem aber dachte er über Allie nach und warum sie gekommen sein mochte.
Als er wieder an seinem Steg angelangt war, fühlte er sich wie neugeboren. Er sah auf die Uhr und stellte erstaunt fest, daß er zwei Stunden unterwegs gewesen war. Die Zeit schien ihm hier draußen immer einen Streich zu spielen, doch er hatte schon vor Monaten aufgehört, sich nach dem Grund zu fragen.
Er hängte das Kajak an die beiden Haken, machte ein paar Dehn und Streckübungen und ging dann zum Schuppen, wo sein Kanu stand. Er trug es ans Ufer, setzte es einen Meter vom Wasser entfernt ab, und merkte, als er zum Haus zurückgehen wollte, daß seine Beine noch immer etwas steif waren.
Die Morgennebel hatten sich noch nicht vollständig aufgelöst. Er wußte, daß die Steifheit in seinen Beinen meist ein Vorbote von Regen war. Er schaute nach Westen und sah Gewitterwolken sich am Himmel auftürmen, weit in der Feme zwar, aber trotzdem bedrohlich. Der Wind war noch nicht stark, trieb die Wolken aber eindeutig näher. So wie sie aussahen, schwarz und schwer, war es nicht gut, draußen zu sein, wenn sie sich entluden. Verdammt. Wieviel Zeit blieb ihm noch? Ein paar Stunden, vielleicht mehr. Vielleicht weniger.
Er duschte, zog neue Jeans an, ein rotes Hemd und schwarze Cowboystiefel, kämmte sein Haar und ging in die Küche hinunter. Er spülte das Geschirr vom Vorabend, räumte überall ein wenig auf, bereitete sich
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