Wie ein einziger Tag
Wort. Die Tränen stürzten ihr jetzt aus den Augen, und sie wandte sich rasch ab und zog ihre Hand zurück. Sie legte den Gang ein, gab leicht Gas. Wenn sie jetzt nicht fuhr, würde sie es nie tun. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, trat Noah einen Schritt zurück.
Wie in Trance nahm er wahr, was sich vor seinen Augen abspielte. Er sah den Wagen im Schrittempo vorwärts rollen; er hörte den Kies unter den Rädern knirschen. Langsam bewegte sich der Wagen zur Straße hin, die sie zurück in die Stadt führen würde. Fort! Sie fuhr fort! Für immer! Noahs Herz krampfte sich zusammen.
Sie winkte ein letztes Mal, ohne zu lächeln, und er winkte matt zurück. »Bleib!« wollte er schreien, aber sie war schon in die Straße eingebogen. Eine Minute später war der Wagen verschwunden, und das einzige, was von ihr blieb, waren die Spuren, die ihre Reifen zurückgelassen hatten.
Lange noch stand er regungslos da. So plötzlich, wie sie gekommen war, war sie auch wieder fort. Für immer diesmal. Für immer.
Er schloß die Augen, sah Allie noch einmal davonfahren - langsam erst, dann immer schneller -, es zerriß ihm das Herz.
Und sie hatte, wie ihre Mutter, nicht einmal zurückgeschaut.
Ein Brief von gestern
Noch immer verschleierten Tränen ihren Blick, aber sie fuhr unbeirrt weiter, in der Hoffnung, daß ihr Instinkt sie sicher zum Hotel zurückführen würde. Sie ließ das Fenster geöffnet, glaubte, die kühle Luft würde ihr helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, doch es schien nicht zu helfen. Nichts würde helfen.
Sie war unendlich müde und fragte sich, ob sie die Kraft haben würde, mit Lon zu sprechen. Was sollte sie sagen? Sie wußte es immer noch nicht, hoffte aber, daß ihr dann schon etwas einfallen würde.
Es mußte ihr etwas einfallen.
Als sie die Zugbrücke erreichte, die zur Front Street führte, hatte sie ihre Fassung wiedererlangt. Noch nicht gänzlich, aber genug, um Lon gegenüberzutreten. Wenigstens hoffte sie das.
Es war nur wenig Verkehr auf den Straßen, und sie hatte Zeit, die Menschen zu beobachten, die ihren täglichen Beschäftigungen nachgingen. An einer Tankstelle schaute ein Automechaniker unter die Motorhaube eines nagelneuen Wagens, während ein Mann, vermutlich der Besitzer, danebenstand und zusah. Zwei Frauen mit Kinderwagen machten, angeregt plaudernd, einen Schaufensterbummel durch die Hoff-man Lane. Ein elegant gekleideter Herr mit Aktentasche eilte am Juweliergeschäft »Heams Jewelers« vorbei.
Ein wenig später sah sie, wie ein junger Mann einen Lastwagen entlud, der die Straße zur Hälfte blockierte.
Seine Art, sich zu bewegen, erinnerte sie an Noah, wie er die Krebsfallen aus dem Wasser zog.
Sie hielt vor einer roten Ampel und sah in der Feme das Hotel. Als die Ampel auf Grün wechselte, holte sie tief Luft und fuhr langsam die Straße hinunter. Beim Einbiegen in den Hotelparkplatz sah sie als erstes Lons Wagen. Obwohl der Platz daneben frei war, suchte sie sich einen anderen, möglichst weit von der Einfahrt entfernt.
Sie drehte den Schlüssel, und der Motor verstummte. Dann suchte sie im Handschuhfach nach einem Spiegel und einer Bürste und fand beides auf einer Straßenkarte von North Carolina. Sie schaute in den Spiegel und sah, daß ihre Augen noch immer gerötet, ihre Lider geschwollen waren. Wie vorgestern nach dem Regen bedauerte sie, ihre Schminksachen nicht dabeizuhaben, auch wenn es ihr jetzt sicher wenig genützt hätte. Sie versuchte, ihr Haar zurück zu bürsten, erst eine Seite, dann die andere und gab schließlich resigniert auf.
Sie griff nach ihrem Notizbuch, öffnete es und überflog noch einmal den Artikel, der sie hergelockt hatte. Was war seither nicht alles geschehen! Kaum zu glauben, daß es erst drei Wochen her war. Und noch unglaublicher war es für sie, daß sie erst drei Tage hier war. Ihr Wiedersehen mit Noah schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Stare zwitscherten in den Bäumen ringsumher. Die Wolkendecke begann aufzureißen, und erste Flecken von Blau zeigten sich am Himmel. Die Sonne hatte sich zwar noch nicht ganz durchgekämpft, doch man konnte sie schon ahnen. Es würde ein herrlicher Tag werden.
Es war die Art von Tag, den sie gern mit Noah verbracht hätte, und während sie an ihn dachte, fielen ihr die Briefe ein, die ihre Mutter ihr gegeben hatte.
Sie löste das Band und betrachtete den Umschlag des ersten Briefes, den er ihr geschrieben hatte. Als sie ihn öffnen wollte, besann sie sich eines anderen, da sie
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