Wie ein einziger Tag
Hochzeitstag.
Wenn ich Dich, meine Liebste, morgens vor dem Frühstück sehe oder in Deinem Atelier, mit Farbe bekleckert, das Haar wirr, die Augen müde, dann weiß ich, daß Du die schönste Frau auf der Welt bist.
Und so ging sie weiter, diese Korrespondenz vom Leben und von der Liebe, und ich las noch Dutzende von Briefen - schmerzvolle und herzerwärmende. Um drei Uhr war ich müde, aber ich war fast am Ende des Stapels angelangt. Ein Brief blieb noch übrig, der letzte, den ich ihr geschrieben habe, und mir war klar, daß ich jetzt nicht aufhören durfte.
Ich öffnete den Umschlag und zog beide Seiten heraus. Ich nahm die erste und hielt sie unter den Lichtkegel meiner Schreibtischlampe und las:
Meine liebste Allie, Auf der Veranda ist es still, bis auf die Laute der Schatten, die vorüberhuschen, und plötzlich fehlen mir die Worte. Eine seltsame Erfahrung für mich, denn wenn ich an Dich und unser gemeinsames Leben denke, gibt es so viel zu erinnern. Ein ganzes Leben voller Erinnerungen. Aber wie es in Worte fassen? Ich weiß nicht, ob ich es kann. Ich bin kein Dichter, doch es würde eines Dichters bedürfen, um auszudrücken, was ich für Dich empfinde.
So schweifen meine Gedanken umher, und mir fällt ein, daß ich heule morgen beim Kaffeekochen über unser gemeinsames Leben nachdachte. Kate war da und Jane, und beide verstummten, als ich in die Küche trat. Ich merkte, daß sie geweint hatten, und ich setzte mich ohne ein Wort zu ihnen an den Tisch und ergriff ihre Hände. Und weißt Du, was ich sah, als ich sie anschaute? Dich sah ich, an dem Tag vor so langer Zeit, als wir uns Lebewohl sagten. Sie ähneln Dir, so wie Du damals warst, schön und empfindsam und tief getroffen von einem Schmerz, der von einem schweren Verlust herrührt. Und ohne genau zu wissen, warum, beschloß ich, ihnen eine Geschichte zu erzählen. Ich rief auch Jeff und David in die Küche, und als alle am Tisch saßen, erzählte ich ihnen von uns beiden, und wie Du vor so langer Zeit zu mir zurückgehehrt bist. Ich erzählte von unserem Spaziergang und von unserem Krebsessen in der Küche, und sie hörten lächelnd zu, als ich von der Kanufahrt und dem Abend vor dem Kamin erzählte, als draußen das Gewitter tobte. Ich erzählte, wie Deine Mutter uns am nächsten Tag vor Lon warnte - sie schienen ebenso überrascht zu sein wie wir damals - und, ja, ich erzählte ihnen sogar, was an jenem Tag noch geschah, nachdem Du in die Stadt zurückgekehrt warst.
Dieser Teil der Geschichte hat mich nie losgelassen, selbst nach all dieser Zeit nicht. Obwohl ich nicht dabei war und Du es mir nur einmal geschildert hast, weiß ich noch, wie ich Deine Starke bewundert habe, die Du an jenem Tag bewiesen hast. Ich weiß bis heute nicht genau, was Du empfunden hast, als Du in die Hotelhalle tratst und Lon dort auf Dich wartete, und wie schwer es Dir gefallen ist, mit ihm zu reden. Du hast mir erzählt, daß Ihr beide das Hotel verlassen und Euch auf eine Bank vor der alten Methodisten-Kirche gesetzt habt, und daß er Deine Hand gehalten hat, selbst als Du ihm erklärtest, Du müßtest bleiben.
Ich weiß, daß Du ihn geschätzt hast. Und seine Reaktion beweist, daß auch er Dich sehr schätzte. Nein, er konnte nicht begreifen, daß er Dich verlieren würde. Wie sollte er auch? Selbst als Du ihm sagtest, daß Du mich schon immer geliebt hast, ließ er Deine Hand nicht los. Ich weiß, daß er verletzt und zornig war; daß er fast eine Stunde versuchte, Dich umzustimmen. Aber als Du festbliebst und sagtest: »Es tut mir leid, aber ich kann nicht mit Dir zurückkehren«, wußte er, daß Du Deine Entscheidung getroffen hattest. Er nickte nur, und Ihr bliebt noch eine Weile wortlos nebeneinander sitzen. Ich habe mich immer gefragt, was in ihm vorging, als er neben Dir saß; wahrscheinlich das gleiche, was ich ein paar Stunden vorher durchlitten hatte. Als er Dich schließlich zu Deinem Wagen begleitete, sagte er, ich sei ein glücklicher Mann. Er benahm sich wie ein Gentleman, und ich verstand, warum Dir die Wahl so schwer gefallen war.
Als ich meine Geschichte beendet hatte, sagte keiner ein Wort, bis Kate schließlich aufstand und mir um den Hals fiel. »O Vater«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Obwohl ich auf alle möglichen Fragen gefaßt war, wurde mir nicht eine gestellt. Statt dessen bereiteten sie mir eine ganz besondere Freude.
Während der folgenden vier Stunden versicherten sie mir alle, wieviel wir, Du und ich, ihnen in ihrer Kindheit
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